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Beitrag vom 09.11.2011
Sabine Richebächer - Sabina Spielrein. Eine fast grausame Liebe zur Wissenschaft
Susann S.Reck
Dank dieser akribisch recherchierten, bewegenden Biographie der Autorin, die selbst als Psychoanalytikerin in Zürich arbeitet, tritt die Ärztin Sabina Spielrein, Pionierin der Kinderpsychologie...
... endlich aus dem Schatten ihrer beiden Überväter, C. G. Jung und Sigmund Freud.
Der Koffer
1923 kehrt Sabina Spielrein nach fast 20 Jahren im Westen auf Grund nicht enden wollender finanzieller Probleme in ihre Heimat, die Sowjetunion, zurück. Es soll kein Abschied für immer sein, deshalb deponiert sie im Keller des Psychologischen Instituts in Genf einen Koffer, in dem sich ihre Tagebücher, privaten Korrespondenzen, wissenschaftlichen Arbeiten, sowie der gesamte Briefwechsel mit C. G. Jung und Sigmund Freud befindet.
Doch Sabina Spielrein kommt nicht wieder.
Die Analytikerin und Ärztin wird 1942 durch ein SS-Sonderkommando in ihrer Heimatstadt Rostow am Donermordet, der Koffer erst 1977 bei Renovierungsarbeiten zufällig entdeckt.
Es ist diesem Fund zu verdanken, dass Sabina Spielrein nicht länger eine Fußnote bei berühmt gewordenen KollegInnen bleibt. Und es ist das große Verdienst der Autorin Sabine Richebächer, dass sie das reichhaltige Material, das es nun plötzlich über Spielrein gibt, nicht primär dazu nutzt, das persönliche Dreiecksverhältnis zwischen Jung, Spielrein und Freud einmal mehr zu fokussieren, denn wenn überhaupt, wurde sie dadurch bekannt.
Spielrein gilt als erstes Analyse-Opfer von C. G. Jung.
Nüchtern und spannend
Sabine Richebächer beschreibt nüchtern und distanziert. Sie untermauert Behauptungen, Thesen und Zitate mit einer Vielzahl von Anmerkungen und Querverweisen. Dies zeigt nicht nur den wissenschaftlichen Anspruch der Autorin, auch untermauert es die Authentizität einzelner Passagen, gerade Jung und Freud betreffend.
Dennoch ist diese Biographie auch ein äußerst spannend. Sie entführt in eine versunkene Welt, die von geistigen Innovationen und politischen Umbrüchen bestimmt war. Die LeserInnen lernen Sabina Spielrein als schillernd-komplexe Persönlichkeit kennen, ebenso klug wie in sich zerrissen, avantgardistisch, schlagfertig und unangepasst, eine Persönlichkeit, die es verstand Chancen zu ergreifen und gleichzeitig nicht in der Lage zu sein schien, in einer Welt zu leben, die ihr stets ein stückweit hinterher hinkte.
Wer war Sabina Spielrein?
1905 wird Sabina, die aus einer gut situierten, jüdischen Familie stammt, in die psychiatrische Anstalt in Zürich, Burghölzli, eingeliefert. Sie ist zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt und dem Aufnahmeformular ist zu entnehmen, dass sie an "einer tiefen seelischen Störung leidet".
Spielrein wird C.G. Jungs erster Schulfall und wenig später seine Geliebte. Der verheiratete Schweizer ist von der weltgewandten jungen Frau zwar fasziniert. Sigmund Freud, seinem idealisierten Vorbild gegenüber setzt er dennoch alles daran, den Übergriff an der Patientin zu vertuschen und die Geliebte zu verleumden.
Zunächst von beiden Männern ausgebootet, erholt sich später Spielreins fachliches Verhältnis zu Freud. Die Beziehung zu Jung allerdings, der ihr gegenüber nicht mit pseudowissenschaftlichen, antisemitischen Äußerungen spart, bleibt zeitlebens gestört.
Aber - im Burghölzli werden Spielreins außergewöhnliche Begabungen erkannt. Sie wird dazu ermutigt, in Zürich Medizin zu studieren und selbst psychoanalytisch tätig zu werden.
Sabine Richebächer zeichnet einen Menschen von ungewöhnlicher Willenskraft, dem es nicht nur gelingt, sich mit der psychischen Erkrankung auseinander zu setzen und sie zu überwinden. Spielrein studiert zudem in deutscher Sprache und schließt das Studium der Medizin erfolgreich ab. Sie promoviert als erste Frau überhaupt zu einem psychoanalytischen Thema.
Zürich, Heidelberg, München, Wien, Rostow, Berlin. Bis zu ihrem Aufenthalt in Genf (1914-1923) wird Spielreins Leben von Unruhe und Rastlosigkeit bestimmt. Auf die Frage nach dem Warum? ist keine eindeutige Antwort zu finden. Spielrein möchte unbedingt im Westen bleiben doch es ist so gut wie unmöglich, sich in zu dieser Zeit als Ärztin in der Schweiz oder auch in Deutschland niederzulassen - als Ausländerin erst recht nicht.
Auch steckte die Psychoanalyse erst in den Kinderschuhen und nicht einmal Sigmund Freud vermochte es, von seinen Sitzungen zu leben.
Spielrein heiratet. Ihr Mann, ein russischer, orthodoxer Jude, fühlt sich im Westen nicht wohl und möchte unbedingt zurück nach Hause. Spielrein wiederum gibt selbst unter den düsteren Vorzeichen, sich als alleinerziehende Mutter durchschlagen zu müssen, die Hoffnung nicht auf, das Leben in der Fremde doch noch zu meistern. Nach der Geburt der Tochter erfolgt deshalb die räumliche Trennung.
Es ist aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar, dass Spielrein in oftmals kaum ihre Miete aufbringen konnte und sogar Hunger litt. Eindrucksvoll schildert Richebächer Spielreins Überlebenskampf, der auch in Briefen dokumentiert ist:
“Es ist schrecklich, dass die Tochter von zwei Ärzten von geborgtem Geld leben muss. /.../ Und dass Du so gar nicht praktisch veranlagt bist, und eine fast grausame Liebe für die Wissenschaft hast" schreibt Pawel Scheftel aus Moskau an seine Frau Sabina.
Immerhin werden die von Spielrein aufgezeichneten Beobachtungen an ihrer kleinen Tochter zur Grundlage späterer Veröffentlichungen.
Die Jahre in Genf (1914-23) gehören zu den Produktivsten ihres Lebens. Aber auch hier bleibt ihre Existenz und kein Ausweg ungesichert.
1923 kehrt Sabina Spielrein nach fast 20 Jahren im Ausland in die neu gegründete Sowjetunion zurück.
Moderne - Eugenetik - Systemwechsel
Richebächer bettet Sabina Spielreins Lebensgeschichte in einen umfassenden zeitgeschichtlichen Kontext ein:
das Leben von Eltern und Großeltern, deren jüdisches Selbstverständnis und ihre Offenheit für die Moderne, das Phänomen des Frauenstudiums in der Schweiz und die sich dort verbreitende Eugenetik (Rassenlehre), die auch vor C. G. Jung nicht Halt macht, den Systemwechsel in Russland, die Verbreitung der Psychoanalyse in der Sowjetunion bis zu ihrem Verbot durch Stalin 1936 - es ist faszinierend zu lesen, wie Spielreins Leben von all diesen Aspekten geprägt, wie es voran getrieben wurde und auch stagnierte. Und es ist bestürzend zu sehen, wie sich diese hochbegabte Frau nicht nur einmal zur falschen Zeit am falschen Ort befand.
Sowjetunion 1923-1942
Sabina Spielreins Leben in der Heimat nach dem Systemwechsel ist zunächst voll von lang ersehnter Arbeit. Nach der Revolution von 1917 gibt es in der Sowjetunion Millionen verwaister Kinder und es werden Konzepte gesucht, sich ihrer so gut wie möglich anzunehmen.
Spielrein wird Mitglied und Lehranalytikerin der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung, sie hält Vorlesungen und Seminare über Kinderanalyse, arbeitet als Ärztin und arbeitet an dem von Vera Schmidt geführten Kinderheim- Laboratorium.
Nach 1 1/2 Jahren in Moskau kehrt sie nach Rostow am Don zurück und bekommt dort ihre zweite Tochter. Die Wissenschaftlerin arbeitet an der Psychiatrischen Poliklinik und im Schullaboratorium, wo sie Reihenuntersuchungen zur Früherkennung von Entwicklungsstörungen leitet.
Nach dem Verbot von Pädologie und Psychoanalyse in der Sowjetunion setzt sie ihre Arbeit heimlich fort.
Ihre späte Karriere täuscht allerdings nicht über die Katastrophe, die schon Stalin über die Familie bringt, hinweg: beide Brüder werden hingerichtet, der Vater stirbt kurz darauf, enttäuscht von dem System.
Sabina Spielreins eigener Tod 1942 durch ein SS-Sonderkommando wird von Sabine Richebächer nüchtern, und dennoch schmerzlich genau beschrieben.
Eine fast grausame Liebe
Sabine Richebächers Biographie erzählt von einer Wissenschaftlerin, deren Leben unauflösbar mit den Anfängen der Psychoanalyse verbunden war, deren Leidenschaft der Suche nach unentdeckten Seelenlandschaften und der Sprache des Unbewussten galt, den Träumen von Kindern und dem unermüdlichen Versuch, ihre Entwicklung zu verstehen.
Kein Preis war dafür zu hoch. Sabina Spielrein war eine rastlose Pionierin in der Erforschung der kindlichen Seele, der kognitions- und sprachwissenschaftlich untermauerten Psychoanalyse. Sie vertrat die These, dass es autistische und soziale Sprachen gibt, wobei sich, nach ihrer Beobachtung, die sozialen erst aus den objektbezogenen entwickeln. In einer ihrer wichtigsten Schriften "die Destruktion als Ursache des Werdens", nahm sie Sigmund Freuds Überlegungen zum Todestrieb vorweg, der sich später in "Jenseits des Lustprinzips" auf sie bezog. Sabina Spielrein verfasste mehr als 30 wissenschaftliche Arbeiten.
Sabine Richebächer zeichnet in ihrer Biographie das Porträt einer komplexen Persönlichkeit in einer ebenso komplexen, sich rasant verändernden Welt, einer Persönlichkeit, die ihren Wissensdrang nicht ihrer Umwelt anpassen wollte und ihrer Zeit- nicht unbedingt zu ihrem eigenen Vorteil - weit voraus war.
Zur Autorin Sabine Richebächer , geboren in Düsseldorf, lebt in Zürich.
Sie ist Psychoanalytikerin und betreute viele Jahre die Rubrik "Psychologische Neuerscheinungen" der Neuen Zürcher Zeitung . Weitere Infos unter: www.richebaecher.com
AVIVA-Tipp: "Sabina Spielrein- Eine fast grausame Liebe zur Wissenschaft" ist ein umfangreiches, äußerst spannendes und informatives Buch, für das sich die LeserIn Zeit nehmen sollte. Es gewährt einen tiefen Einblick in die Anfänge der Psychoanalyse und die Menschen, die bis heute dafür stehen. Es ist sicherlich das umfangreichste Werk, das bislang zu Sabina Spielrein geschrieben wurde.
Sabine Richebächer
Sabina Spielrein - Eine fast grausame Liebe zur Wissenschaft
Dörlemann Verlag, erschienen: 2005, 2. Auflage
400 Seiten, gebunden, mit Schwarzweiß-Abbildungen
24,90 Euro
ISBN 9783908777144
Weiterlesen
Sabina Spielreins Tagebücher und Briefe
antipsychiatrieverlag.de
Weiterschauen
Der Dokumentarfilm über Sabina Spielrein von Elisabeth Martón
sabinaspielrein.com/htm/press.htm
David Cronenberg neuester Spielfilm "A Dangerous Method" (Kinostart 10.11.2011) handelt von dem Dreiecksverhältnis zwischen Sabina Spielrein, C. G. Jung und Sigmund Freud:
www.youtube.com