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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 11.08.2012


Juli Zeh – Nullzeit
Marie Heidingsfelder

Dass die scheinbar objektive Realität in potenziell endlose Wahrnehmungen zerfällt, ist nicht weiter beunruhigend. Es sei denn, es geht im juristischen Sinne um Schuld. Ein atemraubender Roman...




... und der erneute Beweis, dass Lesen nicht der Konsum von Genussmitteln ist.

Die Insel

Handlungen auf Inseln zu verlagern, ist ein bewährtes Mittel der Literaturgeschichte: Der Ort, die AkteurInnen, und meist auch die Zeit sind begrenzt und neigen zu Verdichtungen, die durch den Kontrast der endlosen Weite des Wassers zu Beklemmungen gesteigert werden. Der Topos Insel verspricht vor allem eins: Es kommt zum Knall. Deshalb spielen dort, mitten im Meer, gefährliche Abenteuer, kulturelle Grenzerfahrungen, Fabeln zum menschlichen Miteinander – und vor allem Beziehungsgeschichten.

Auch "Nullzeit" spielt auf einer Insel. Und obwohl Juli Zehs jüngster Roman alle Elemente der geotypischen Erzählungen aufgreift, geht ihre Handlung weit über die Ufer des Genres hinaus: Vor dem Hintergrund der kargen Vulkanlandschaft Lanzarotes und des tosenden Atlantiks stellt "Nullzeit" die großen grundsätzlichen Fragen nach Schuld und Unschuld, nach Wahrheit und Lüge und danach, wie weit Menschen gehen können.

Das Dreieck

Als Tauchlehrer Sven seine neuen KundInnen vom Flughafen abholt, scheint die Welt in Ordnung: Die Telenovela-Heldin Jola und ihr Freund, der Schriftsteller Theo, sind nicht nur sympathisch, sondern zahlen für zwei Wochen Rundum-Betreuung sogar 1000 Euro am Tag. Darüber hinaus hat Sven beschlossen, sich aus dem Leben anderer Menschen heraus zu halten. Enttäuscht von den ständigen Bewertungen und Urteilen, die das Miteinander in Deutschland prägen, ist er mit seiner Freundin Antje bewusst auf die Vulkaninsel mitten im Atlantik geflohen. Doch das Auftauchen von Jola und Theo erschüttert Svens Exil aus Einsamkeit, Brandung und der Tiefe des Meeres in seinen Grundfesten. Immer tiefer gerät er in den Sog des ungleichen Paares und verfängt sich in einer Dreiecksbeziehung, bei der weder die Rollen, noch die Regeln klar verteilt sind. Selbstverständlich knallt es, und dann hallt es nach.

Was bleibt

"Natürlich möchte man glauben, dass nur ein kranker Verstand zu derart akribischer Bösartigkeit fähig wäre." schreibt eine der Figuren am Ende des Romans. Der Verdienst von Juli Zeh besteht darin, die unglaublichen Ausmaße des gesunden Menschenverstandes zu demonstrieren. Eine Reise in die Grenzgebiete des Verstandes - nicht nur dem der Figuren, auch dem der LeserInnen.

Zur Autorin: Juli Zeh wurde in Bonn geboren und studierte Jura in Passau und Leipzig, wo sie 1998 ihr Erstes Staatsexamen machte. Ebenfalls in Leipzig studierte sie von 1996 bis 2000 am Deutschen Literaturinstitut (DLL), an das sie später als Dozentin zurückgekehrt ist. Nach ihrem Diplom am DLL folgte 2003 das Zweite Staatsexamen. Zahlreiche Auslandsaufenthalte u.a. für die UN in New York und Krakau und vor allem in Sarajevo, Bosnien und Herzegowina haben ihre Arbeiten geprägt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Deutschen Bücherpreis, dem Rauriser Literaturpreis, dem Hölderlin-Förderpreis, dem Ernst-Toller-Preis und dem Solothurner Literaturpreis.
Ihr erster Roman "Adler und Engel" erschien 2001, es folgten weitere Romane wie "Spieltrieb" (2004) und Schilf (2007) sowie Sachbücher zu Gesellschaft, Politik und Recht. Nebenher schrieb sie zahlreiche Essays und Artikel.
Seit 2007 lebt Juli Zeh in Barnewitz, sie ist verheiratet und Mutter.
Mehr Infos: www.juli-zeh.de

AVIVA-Tipp: Mensch darf sich nicht täuschen lassen: Auch wenn "eine Dreiecksgeschichte zwischen einem B-Promi-Paar und ihrem Tauchlehrer auf Lanzarote" wie der Beitrag eines Boulevard-Mittagsprogramms klingt, ist "Nullzeit" weder ein Groschenheft, noch eine typische Strandlektüre - es ist atemberaubend gut, atemberaubend raffiniert und atemberaubend tief.
Juli Zeh gelingt mit "Nullzeit" ein Roman, dessen unglaublichen Sog die Leserin erst realisiert, wenn sie schon verloren ist: Alleine im Strudel von Wahrheit, Schuld und Lebenslügen.

Juli Zeh
Nullzeit

Schöffling & Co, erschienen August 2012
Hardcover, 256 Seiten
ISBN-13: 978-3895614361

Weiterlesen auf AVIVA Berlin:

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"Alles auf dem Rasen" von Juli Zeh

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Beitrag vom 11.08.2012

AVIVA-Redaktion