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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 06.11.2012


Anna Katharina Hahn - Am Schwarzen Berg
Evelyn Gaida

Im Stuttgarter Hitzekessel des Sommers 2010 braut die mehrfach ausgezeichnete Autorin einen bildstarken Wortwuchs zusammen, an dessen Ende eine Tragödie steht. Neben polierten Wohlstandsfassaden...




... wuchern morbide Gärten des Verfalls, Lebenslügen, Ängste, psychologische Treibnetze und die sirenenhaften Stimmen der literarischen Vergangenheit, die sich mit den Protesten gegen Stuttgart 21 mischen.

"Am schwarzen Berg da steht der Riese …" Ein Zitat aus Mörikes Gedicht "Die Elemente" übernimmt hier die Patenschaft für Abgründe, die sich hinter dem Gartenzaun auftun können, und davor. Die Autorin macht den brütenden Berg zur gleichnamigen Postadresse ihrer Hauptfiguren.

Schon die erste Szene des Romans wird von einer Schwingung haltlosen Verderbens durchzittert. Emil Bub, ein alternder, etwas heruntergekommener Deutschlehrer, kauert sich schweißgebadet auf seinem Balkon zusammen. Er beobachtet heimlich die Rückkehr des 40-jährigen Nachbarssohnes Peter in dessen Elternhaus. Peter befindet sich offenkundig in einem apathischen, desolaten Zustand, beim Ausräumen seiner Habseligkeiten aus dem Auto kommt es zu einem bestürzenden Gerangel mit seiner Mutter, unter anderem bringt er einen schlammverschmierten Glaskasten mit – das geliebte Aquarium seiner Kindheit.

Jahrzehnte zuvor hatten Emil und seine Frau Veronika die Vorgänge auf dem Nachbargrundstück mit Ablehnung und innerem Protest verfolgt: die Umgestaltung und den ehrgeizigen Ausbau des alten Hauses durch Peters Vater Hajo, einen Arzt aus ärmlichen Verhältnissen, der sich hartnäckig durch sein Studium gekämpft hatte und nun stolz und großmännisch seinen erwirtschafteten Besitz ausbreitete. Das Ehepaar Bub-Beyer dagegen hatte in seiner StudentInnenzeit in Gartenhäusern und WGs gelebt, wo viel gekifft wurde und Che-Poster an der Wand hingen. Schließlich waren sie zusammen in das leicht verwachsene und ungepflegte "Hexenhäuschen" am Schwarzen Berg gezogen.

Veronika, die seit Langem Bibliothekarin in der Stadtbücherei im Wilhelmspalais ist und sich deren Umzug in den Neubau am Mailänder Platz so wenig vorstellen kann "wie eine Reise ins Weltall", hatte sich mit ihrer Kinderlosigkeit als ruhige Gewissheit eingerichtet, doch dann war der neunjährige Peter übermütig durch den nachbarlichen Garten gesprungen. "Was hatte Peter gebraucht, um all dies über den Haufen zu werfen? Einen Blick, eine Handbewegung, eine Wunde über dem Ellenbogen, bei deren Anblick Veronikas eigene Haut brannte."

Lebensentwürfe lässt die Autorin gegenüber der emotionalen Wirklichkeit ihrer Figuren immer wieder zusammenschnurren wie welke Kulissen.

Peter wird zum Sehnsuchtsobjekt der Bub-Beyers, zu ihrer Sucht, sie werden umgekehrt zu seinen zweiten Eltern, die ihn mit Liebe, Süßigkeiten und Literatur überschütten. Von seinem eigenen Vater sieht der Junge vor allem die Rücklichter des Autos, mit dem Hajo in seine Praxis fährt, während Peters norddeutsche Mutter Carla die Rolle der putz- und kochbesessenen schwäbischen Hausfrau und "Muddi" übernimmt. Hahn übt keine Schonung bei der Darstellung ihrer Figuren, ihr Blick sucht die unschönen Details, stellt oft forciert bloß. Ohne das kühle Errichten dieser Distanz wären Emils und Veronikas Rückblicke auf das Kaugummi kauende, Wärme und Leben verströmende Kind jedoch schwer zu ertragen. In der Gegenwart ist Peter ein gebrochener Mann. Sein Niedergang lässt ungebremst das starrende Elend Gestalt annehmen, das sich hinter dem Begriff Depression verbirgt. Die Rückblenden markieren vor diesem Hintergrund den schrecklichen Verlust von Kindheit, von Weltvertrauen und Unschuld.

Anna Katharina Hahn zieht in ihren Figuren eine Art Gesellschaftspanorama aus unvereinbaren Lebenswelten und sozialen Bruchstellen zusammen, um sie auf engstem Raum miteinander kollidieren zu lassen. Das hat etwas von den künstlich herbeigeführten Bedingungen eines Laborexperiments, zwingt aber auch zum Blick über den jeweiligen Tellerrand. Peter will nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten, er wird Logopäde, statt Arzt, und schafft sich genug Freiraum, um viel Zeit mit den beiden Söhnen zu verbringen, die er zusammen mit seiner Frau Mia hat, einer Pädagogin. Der Anblick des Protestcamps im Schlossgarten ist für Peter ein Erweckungserlebnis, die Bäume werden für ihn etwas Sakrales, die BürgerInnenbewegung eine poetische und weltverändernde Energie, eine große Familie.

Mia hatte von dem Arztsohn etwas anderes erwartet. Sie ist die Tochter einer alleinerziehenden Putzfrau und verbrachte ihre Kindheit damit, ihrer Mutter beim Reinigen von luxuriösen Räumlichkeiten zuzusehen. In Mias Augen ist das Camp im Schlossgarten ein "bizarres Narrendörfchen", ist Peters Ersatzvater Emil ein Gedichte rezitierender Flaschengeist. Als Peter die Teilhabe an der Logopädiepraxis, für die er arbeitet, ablehnt und Mia einen anderen Mann kennen lernt, verlässt sie Peter in einer Kurzschlussreaktion, verschwindet mit den Kindern Hals über Kopf ins Tessiner Domizil ihres Geliebten. Für den Zurückgelassenen bricht damit alles zusammen. Er wird zum lebendigen Toten.

Am Ende steht die Hilflosigkeit der vier Eltern, stehen ihre Projektionen, ihre Verdrängung und das Entsetzen. Hajo hat es mit Medikamenten und tabellarischer Überwachung versucht, Carla mit dem Bekochen ihres "Schnuck", Emil schleppt ihn in die überhitzte Stadt, Veronika macht sich auf die detektivische Suche nach der Ursache des Leidens. Als Mia sich nach zwei Monaten meldet und Peter den Ansatz einer Lebensregung zeigt, ist das für die vier Älteren Grund genug im Garten zu feiern, mit üppigem Essen, viel Bowle und wiegendem Tanz. Jetzt könne Peter sich ja vielleicht doch noch an der Praxis beteiligen und alles sich zum Guten wenden. Es ist der übliche trügerisch augenauswischende Frieden vor einer Katastrophe. Trotz dieser absichtlichen Vorhersehbarkeit ist der Schluss so unerbittlich seelisch grausam, dass er paradoxerweise nicht trostlos ist, sondern einen Imperativ enthält: zu leben.

AVIVA-Tipp: "Am Schwarzen Berg" ist ein harter Roman, ein präzises und nachgerade selbsttätig eindringliches Wortgewebe, das neben dem altbekannten und sich umwälzenden Stuttgart ein bisher unerschlossenes Porträt der Stadt literarisch freilegt. Ob Häuslebauer oder grüne Gartenarbeitsverweigerer: Mit der gnadenlosen Lupe ihres Blicks brennt Anna Katharina Hahn ein schwarzes Loch in die Lebenslandkarte bürgerlicher Selbstgefälligkeit, macht die scheinbaren Banalitäten des Alltags durchsichtig für das Flimmern des Wahnsinns, das manisch Verdrängte.

Zur Autorin: Anna Katharina Hahn, geboren 1970, lebt in Stuttgart. Zuletzt erschien ihr Roman "Kürzere Tage". Der Bestseller stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2009 und auf der Shortlist für den Preis der SWR-Bestenliste und wurde 2010 mit dem Roswitha von Gandersheim-Preis und dem Heimito von Doderer-Preis ausgezeichnet. (Quelle: Suhrkamp Verlag)

Anna Katharina Hahn
Am Schwarzen Berg

Suhrkamp Verlag, erschienen im März 2012
Gebunden, 236 Seiten
ISBN 978-3-518-42282-3
19,95 Euro

Weitere Informationen finden Sie unter:

Suhrkamp Verlag


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Beitrag vom 06.11.2012

Evelyn Gaida