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AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 - Beitrag vom 12.12.2012


Mira Magén - Wodka und Brot
Sigrid Brinkmann

Ein angesehener Rechtsanwalt bricht seine Karriere ab und arbeitet als Fischer. Seine Frau gibt ihre hochbezahlte Arbeit in einer Bank auf, um im Laden ihrer Eltern Brot, Margarine und Oliven zu...




... verkaufen. Mira Magén beschreibt den Untergang einer Familie und die verschlungenen Wege hin zu einer Versöhnung mit dem Leben.

"Auf dieser Welt braucht man Glück und Erbarmen. Wer keins von beidem hat, ist erledigt", glaubt Amia, eine junge Akademikerin, die den Lebensmittelladen ihrer verstorbenen Eltern weiterführt. Ihr Mann Gideon hat sie und den fünfjährigen Sohn auf befristete Zeit zurückgelassen, weil "Tonnen von Informationen seinen Schädel sprengten". Fraglos beugt sich Amia Gideons Wunsch, doch zeigt sich bald, dass sie es bloß vermeidet, zwingende Fragen zu stellen.

Unentschieden in der Frage, ob es einen freien Willen gibt, steht die Autorin stets auf Seiten derer, die verborgenen Kräften gehorchen. Magén stellt das Bedürfnis ihrer Figuren nach schmerzbedingter Heimlichkeit nie in Frage und wahrt so deren Integrität. Gideons Krise zeichnete sich ab, als er für einen Mandanten zu schwärmen begann, der allen Besitz abwarf, in einem Karton auf der Straße lebte und sich nicht mehr darum scherte, ob er im Bewusstsein der anderen existierte. Mit einem untrüglichen Gespür für feinste seelische Regungen schildert Magén Ambivalenzen.

In radikalen Weigerungen entdeckt sie Spuren von Kummer, im erotischen Spiel manchmal nur eitle Selbstbespiegelung. Gerade weil ihre Protagonistin Amia ahnt, dass ihre Liebesfähigkeit geprüft wird, gestattet sie Fremden, in ihre Privatsphäre einzudringen - so dem obdachlosen Mädchen Madonna, das eines Abends betrunken vor der Tür steht, sie nach der Ausnüchterung beklaut und Amia als Wiedergutmachung den Schäferhund Wodka schenkt. Missgünstig belauert Amias Vermieter jeden Schritt, den sie und ihr Junge tun. Sie hingegen ist beseelt von der Idee, den Misanthropen zu läutern. Dabei stößt sie auf eine Wunde, die eigene Urängste wachruft.

Mira Magéns ProtagonistInnen haben viele Schicksalsschläge zu verkraften. Erst spät begreift Amia, dass ihr Mann an einer unheilbaren zerebralen Krankheit leidet, die ihn allem und jedem langsam entfremdet. Als Magén den Roman zu schreiben begann, wollte sie nur von einer Familie erzählen, die vorübergehend eine neue Lebensweise erproben möchte und sich sozial und ökonomisch neu orientieren muss. Dann geschah es, dass ein junger befreundeter Anwalt auf dem Weg nach Hause plötzlich vergessen hatte, wo er wohnte. Er ging zum Arzt und erfuhr wenig später, dass er unheilbar erkrankt war und ihm nur noch ein Jahr Lebenszeit blieb. Das Schicksal des Freundes veränderte die Romanhandlung, und für Mira Magén begann die Suche nach dem "allerkleinsten Kern unserer Seele", den kein Schicksalsschlag angreift und zerrüttet, der "nur uns gehört und uns ausmacht". Die "kleinste Bezeugung des freien Willens" drückt sich in Gideons Wunsch aus, weit wegzugehen und in der Ferne zu sterben - allein oder unter fremden Menschen. Amias freier Wille, so Mira Magén, drücke sich im Respekt für diese einsame, die Familie ausschließende Entscheidung aus.

"Ich werde nie erfahren", sagt Amia, "ob er in einem in Felsen gehauenen Kloster aufgenommen wurde, wo ihn tibetanische Mönche mit Reis fütterten, sich über seine Eigenheiten wunderten und ihn für einen Heiligen hielten. Oder ob er auf einem verschneiten Gipfel seinen letzen Atem aushauchte und Adler seine Leiche fraßen, oder ob er im Schnee erfror. Und es gab noch andere Arten zu sterben, die nicht weniger logisch waren, zum Beispiel, dass G´tt ihn liebte und ihn als Engel zu sich nahm, wie er es mit Hanoch getan hatte."

Wie auch in früheren Romanen, lotet die in einer ultraorthodoxen Familie aufgewachsene Autorin die Grenzen des G´ttvertrauens aus. Gemäß ihrer Überzeugung, dass jede/r, die oder der religiös erzogen wurde, G´tt wie Kalzium in seinen Knochen trägt, sucht sie stets nach Zeichen des Allmächtigen. Alles wird in ihrer Romanwelt mitnichten gut, aber es kann helfen, den Sinn des Lebens plötzlich in den leeren Schuppen eines Kieferzapfens zu entdecken, den ein alter Mann auf das Grab seines verunglückten Enkels legte, oder die Sterne anzuschauen und in ihnen nicht nur Materie, sondern "Lichter G´ttes" zu erblicken.

Zur Autorin: Mira Magén, Anfang der fünfziger Jahre in Kfar Saba (Israel) geboren, blieb der orthodoxen, ostjüdisch geprägten Welt ihrer Kindheit bis heute verbunden, die Stationen ihrer Biographie verraten jedoch eine Revolte: Studium der Psychologie und Soziologie, Ehe und Kinder, alle fünf Jahre ein anderer Beruf - Lehrerin, Sekretärin, Krankenschwester und schließlich Schriftstellerin. Magén zählt neben Zeruya Shalev zu den bedeutendsten Autorinnen ihres Landes. Ihr Werk, das Romane und Erzählungen umfasst, wurde u.a. mit dem Preis des Premierministers 2005 ausgezeichnet. Mira Magén lebt in Jerusalem und hält viel beachtete Poetik-Vorlesungen, derzeit an der Hebräischen Universität Jerusalem. (Verlagsinformationen)

AVIVA-Tipp: In ihrem berührenden Roman feiert Mira Magén nicht zuletzt die wachsende Hingabe ihrer Protagonistin an fremde Lebensgeschichten – um von ihnen zu lernen. Alle Weichenstellungen passieren im Monat August, den die frommen Juden Elul nennen oder "Monat der Gnade und des Vergebens". An den Tagen des Elul bereitet man sich auf das Neue vor. Für Amia bedeutet dies, sich mit wachsender Gelassenheit ihrem Alleinsein zu stellen. Die Leserin ahnt, dass sie, wie Madonna, eines Tages sagen könnte: "Mein Leben wiegt so viel wie ein Koffer mit acht Unterhosen und sechs Kleidern. Ein Vergnügen."

Mira Magén
Wodka und Brot

Originaltitel: Vodka and Bread
Aus dem Hebräischen übersetzt von Mirjam Pressler
Deutscher Taschenbuch Verlag, dtv premium, erschienen Oktober 2012
Deutsche Erstausgabe, 400 Seiten
16,90 Euro
ISBN 978-3-423-24923-2

Dieser Beitrag wurde uns von der Journalistin Sigrid Brinkmann freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Erstmalig ist die Rezension im Dezember 2012 auf Deutschlandradio in der Sendung "Fertig mit Gott! Jüdische Schriftsteller befreien sich von ultra-orthodoxen Glaubensvorschriften" erschienen.



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Beitrag vom 12.12.2012

AVIVA-Redaktion