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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 26.06.2013


Rena Dumont - Paradiessucher
Veronika Siegl

Mit einem Urlaubsvisum und ihrem alten Fiat flüchten die 17-jährige Lenka und ihre Mutter Mitte der 1980er Jahre aus Tschechien nach Deutschland, wo sie eine Welt der kahlen Asylheime, bunten ...




... Supermärkte und zahlreichen Ungewissheiten kennenlernen. Dumonts Debutroman ist eine autobiografische Erzählung über Abschied und Neuanfang.

"Wi wont politikal Asil"

Schon wieder endet das Vorsprechen am Konservatorium in einem Desaster. "Ist Ihnen bewusst, dass Tennessee Williams Amerikaner war?", tönt es dem Mädchen entgegen bevor sie aus dem Saal geworfen wird. In diesem Moment wird ihr bewusst: "Wir müssen abhauen!" Weg aus der tschechischen Kleinstadt, weg aus einem System, in dem sie ohne Parteizugehörigkeit nie Schauspielerin werden wird, weg aus einem "gemütlichen, bedeutungslosem Dahinsiechen", das im Hausfrauenalltag zu enden droht.

Als Lenka und ihre Mutter Nadja nach wiederholten Anläufen ein zweiwöchiges Visum für Deutschland erhalten und mit dem Auto zitternd die Grenze passieren, wissen die zwei Frauen, dass es kein Zurück geben wird. "Auf einmal wird uns klar, dass wir ´drüben´ sind. Ganz plötzlich fangen wir an zu schreien, zu jubeln, als hätten wir ein Match gewonnen. Ein eigenartiges Gefühl." Doch die Euphorie weicht schnell der Angst und Sorge – Wie soll es weitergehen?

Mit Händen, Füßen und ein paar Worten Englisch schaffen es die beiden, der Polizei verständlich zu machen, dass sie in Deutschland bleiben und Asyl beantragen wollen. Es beginnt ein behördlicher Hürdenlauf und eine Zeit langen Wartens.

Grenzerfahrungen

Rena Dumont erzählt diese Geschichte aus der Perspektive Lenkas, einem Mädchen, deren Leben einen radikalen Bruch erfährt. Auf der einen Seite der Grenze die Verwandten, Freund_innen und Liebhaber in Tschechien, die zunächst im Glauben gelassen werden müssen, Lenka und Nadja würden nach ihrem Urlaub wiederkommen. Auf der anderen Seiten das Flüchtlingsheim im bayrischen Königssee, mit all seinen eigenen Gesetzen, illegalen Geschäften und skurrilen Bewohner_innen. Mit letzteren erkunden sie zum ersten Mal einen Supermarkt, kosten skeptisch Kiwis und Cornflakes, klauen teure Unterwäsche und verbringen die Abende vor dem Fernseher mit amerikanischen Horror- und Actionfilmen.

Coming of Age

Aber "Paradiessucher" ist nicht nur die Geschichte einer Flucht, sondern auch die Geschichte eines Teenagers, mit allen Versicherungen und Erfahrungen, die sich in diesem Alter aufdrängen – Liebe und Sexualität, Parties, Alkohol, Rauchen, Pickel, Mode, und nicht zuletzt die Beziehung zur Mutter.

Der Teenager zeigt sich auch in der Sprache des Romans. Lenka (alias Dumont) nimmt kein Blatt vor den Mund. Ganz unverblümt und abgebrüht beschreibt sie ihre Mitbewohner_innen als "Jugo-Tussen, Tschechen-Landpomeranzen, Slowaken-Gammler, Polaken-Gören und Albaner-Schläger" oder denkt über ihre unbefriedigenden Sexerfahrungen nach: "Er wird sich eine Zigarette anzünden, wird zufrieden sein, schließlich hat er gerade eine Siebzehnjährige gefickt, die noch schön eng ist."

Mit dem Blick nach vorn

Doch trotz der vielen sprachlichen, behördlichen und finanziellen Unsicherheiten scheint die zielstrebige Lenka nie die Hoffnung und Kraft zu verlieren – "Eine kräftige Portion Optimismus und Gelassenheit braucht man, sonst geht man hier unter". Und so ist es sie, die ihrer nervösen, kettenrauchenden Mutter das Heimweh lindert, durch ihre Hartnäckigkeit eine Schulerlaubnis erkämpft, determiniert Deutsch lernt und letztendlich ihrer Geschichte ein Happy End bereitet.

AVIVA-Tipp: "Paradiessucher" ist kein Rückblick einer Erwachsenen auf ihr Leben, sondern die Erzählung einer Jugendlichen, in den Worten einer Jugendlichen. Humorvoll, plastisch und mit Liebe zum Detail (manchmal zu viel Liebe) teilt die Autorin ihre Gefühls- und Gedankenwelt der Monate vor und nach der Flucht und gewährt so einen sehr persönlichen Einblick in die Zeit kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs.

Zur Autorin: Rena Dumont, 1969 als Rena Zednikova im mährischen Städtchen Prostejov geboren, flüchtete als Siebzehnjährige mit ihrer Mutter nach Deutschland. Es folgten acht abenteuerliche Monate im Asylbewerber_innenheim Königssee, dann zog sie nach München und vier Jahre später zum Schauspielstudium nach Hannover. Seit 1995 tritt sie an verschiedenen deutschsprachigen Bühnen auf, unter anderem an den Münchner Kammerspielen, im Schauspielhaus Wien und im Nationaltheater Prag. Sie spielte in zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen und schreibt Drehbücher und Kurzgeschichten. "Paradiessucher" ist ihr erster Roman.

Die Autorin im Netz: www.renadumont.de (inkl. Fotos von Verwandten und Freund_innen in Tschechien sowie von der ersten Zeit in Deutschland) und auf www.facebook.com

Rena Dumont
Paradiessucher

Hanser Verlag, erschienen Januar 2013
Flexibler Einband, 304 Seiten, empfohlen ab 14 Jahren
ISBN: 9783446241640
14,90 Euro
www.hanser-literaturverlage.de

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Beitrag vom 26.06.2013

AVIVA-Redaktion