Nellie Bly - Around the World in 72 Days. Die schnellste Frau des 19. Jahrhunderts - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 11.11.2013


Nellie Bly - Around the World in 72 Days. Die schnellste Frau des 19. Jahrhunderts
Bärbel Gerdes

Die amerikanische Journalistin, Kriegsreporterin und Theaterkritikerin im Wettlauf gegen Jules Verne – ein rasender Reisebericht durch die Kolonien des 19. Jahrhunderts. Erschienen im AvivA-Verlag.




Als die 23jährige Journalistin Nellie Bly im September 1887 vom Chefredakteur der populären New York World den Auftrag bekommt, sich in eine psychiatrische Frauenklinik einzuschmuggeln, um einen wahrheitsgemäßen Bericht über die dortigen Zustände und Behandlungsmethoden zu schreiben, zögert diese keinen Augenblick. Ihr anklagender und engagierter Aufschrei gegen die Missstände in der Klinik begründet ihren Ruhm.
So verwundert es nicht, dass ihr Chefredakteur zwei Jahre später ihrer Idee zustimmt, eine Weltumrundung zu unternehmen, die die fiktiven Jules Verne´schen 80 Tage um die Welt unterbieten sollte.

Nellie Bly, 1864 im amerikanischen Pennsylvania geboren, war eine Selfmade-Woman und trug dies auch in ihrem Herzen. Sie sei eine geborene und stramme Amerikanerin [...] und überzeugt, dass es darauf ankommt, was jemand aus sich macht, und nicht, als was er geboren wurde. Bly, die nur kurz die Schule und nie ein College besuchte, machte in jungen Jahren durch einen Leserinnenbrief auf sich aufmerksam, in dem sie den frauenverachtenden Artikel eines Journalisten kritisierte. Der Chefredakteur des Blattes wollte sie kennen lernen - prompt erhielt sie erste Aufträge. Bereits zu diesem Zeitpunkt zeichneten sich ihre Themen ab, sie schrieb über das Scheidungsrecht und über die Sphäre der Frauen. Bald darauf jedoch wurde sie auf die für Journalistinnen vorbehaltenen Schwerpunkte zurückgestutzt: Mode, Familie, Garten … Bly flüchtete für sechs Monate nach Mexiko und arbeitete nach ihrer Rückkehr als Theaterkritikerin in Pittsburgh. Unzufrieden mit dem langweiligen Job zog sie nach New York, wo sie den Auftrag zur investigativen Recherche in der Blackwell´s Island Psychiatrie erhielt.

Als Nellie Bly im November 1889 ihre Weltreise begann, wurde sie von einem erheblichen Presserummel begleitet. Unterstützt durch Preisausschreiben, Nellie-Bly-Globen und –Spielen und einem parallelen Abdruck von In 80 Tagen um die Welt in der World startete die Fünfundzwanzigjährige zu einer Reise auf den Spuren von Phileas Fogg. Die Leserin begleitet die Journalistin in diesem rasanten Bericht in Kutschen und auf Schiffen, lernt die Unterschiede der amerikanischen und britischen Eisenbahnen kennen, die Speisen und die fernen Länder, und wird bestens unterhalten. Bly beschreibt wunderbar humorvoll und geistreich die köstlichsten Situationen an Bord, alberne Unterhaltungsspiele, versnobte Mitreisende. Sie erzählt von der Frau, die gerne eine Kabine direkt oberhalb der Schiffsschraube [hätte], damit sie sicher sein könne, das das Schiff auch fuhr! und von dem Mann, der ihr gegenüber eine zu große Aufmerksamkeit walten ließ und über dessen Seekrankheit sie sich freut. Auf dem Schiff entpuppt sich das, was als großes Abenteuer begann, letztendlich als eine recht bequeme und auch unaufgeregte Urlaubsreise.
Wir begleiten die Journalistin aber auch an Land, und nach und nach beschleicht sich während des Lesens ein Gefühl des Unbehagens und Erschreckens. Munter und unbefangen berichtet Bly über die "dreckigen Chinesen", sinniert darüber, ob sie sich von ihrer Reise einen ägyptischen Jungen oder eher ein singhalesisches Mädchen mitbringen soll, um sich dann für einen Affen zu entscheiden, und ist stolz darauf, dass sich die Engländer alle begehrenswerten Seehäfen an sich gerissen hatten… ich verspürte zunehmend Anerkennung für die Besonnenheit der englischen Regierung.
Sie berichtet von den Vorteilen einer von einem Mann gezogenen Rikscha gegenüber einer Kutsche: Es war so beruhigend, ein Pferd zu haben, das auf sich selbst Acht geben konnte!
Wir schlendern mit ihr durch Hinrichtungsstätten und Folterkeller und hören ihren Spott über eine Opernaufführung und das "ameisenhafte Dasein der ChinesInnen".

Stark tritt hier hervor, wie sehr verhaftet Bly dem kolonialen und imperialistischen Denken ihrer Zeit ist. Sie, die sich im eigenen Land für entrechtete Arbeiterinnen, Kranke, Arme einsetzte, betrachtet Menschen außerhalb der "weißen Sphäre" nicht als gleichwertig. Sie folgt mit dieser Reise den Auswirkungen einer besetzenden Politik, die die Länder und Menschen erst kolonialisiert, um sie dann auszubeuten, aber auch in Urlaubsziele und Dienstpersonal zu verwandeln.
Es ist ein Schatz, den der AvivA-Verlag mit dieser Übersetzung gehoben hat. Nellie Bly ist trotz oder gerade wegen ihrer Widersprüche eine spannende, interessante und mutige Frau. Ihre Reportagen geben uns die Möglichkeit, unmittelbar die Neuerungen ihres Jahrhunderts zu erfahren: technischer Fortschritt auf der einen, Weltmachtsdenken auf der anderen Seite.
Der hervorragend editierte und haptisch und visuell einfach schöne Band ist mit einem sehr informativen und kenntnisreichen Vorwort des Herausgebers über den beginnenden Tourismus und aufstrebenden Kolonialismus der AmerikanerInnen ausgestattet.

AVIVA-Tipp: Dieser beeindruckende und unterhaltsame Reisebericht zeigt die Welt des 19. Jahrhunderts aus der Sicht der in ihr verhafteten Journalistin. Der westliche Kolonialismus öffnet die Türen zu einem globalen Tourismus.

Zur Autorin: Nellie Bly, 1864 geboren, begann ihre journalistische Karriere 1885 beim Pittsburgh Dispatch. Ruhm erlang sie 1887 mit ihrer Reportage aus einer psychiatrischen Frauenklinik. Berichte über die Schicksale New Yorker Dienstmädchen, Frauen in den Papierfabriken, aber auch die Aufdeckung von Korruptionsfällen im New Yorker Parlament folgten. 1895 heiratete sie überraschend einen wesentlich älteren New Yorker Stahlbaron, dessen Unternehmen sie nach seinem Tod weiterführte. Nach dem wirtschaftlichen Bankrott verbrachte sie fünf Jahre in Europa, wo sie unter anderem als Kriegsreporterin arbeitete. Nellie Bly starb am 27. Januar 1922 in Manhattan infolge einer Lungenentzündung.

Zum Herausgeber: Martin Wagner, 1983 in Hamburg geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte. Von 2006 bis 2009 arbeitete er als Gutachter für den Rowohlt Taschenbuchverlag. Seit 2009 Promotionsstudium in den USA (Yale, New Haven).

Nellie Bly
Around the World in 72 Days. Die schnellste Frau des 19. Jahrhunderts

AvivA-Verlag, erschienen März 2013
319 Seiten.
ISBN 978-3-932338-55-7
19,90 Euro

Mehr Infos zu Nellie Bly unter:

www.nellieblyonline.com

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Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Zehn Tage im Irrenhaus. Undercover in der Psychiatrie, von Nellie Bly. Erschienen 2011 im AvivA-Verlag









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Beitrag vom 11.11.2013

Bärbel Gerdes