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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 14.11.2013


Helga M. Novak - Im Schwanenhals
Claire Horst

Über 30 Jahre Jahre liegen zwischen dem zweiten und dem dritten Band von Helga Novaks autobiografischem Werk. Nicht überraschend, denn die Lebensgeschichte der Autorin ist eng verknüpft mit der...




... politischen Geschichte Deutschlands.

Und zur Verarbeitung historischer Ereignisse braucht es schließlich immer mindestens eine Generation.

Novaks Geschichte hat es in sich. Als Adoptivkind besuchte sie ein Internat, trat früh in die SED ein und begann dann ein Journalismus-Studium in Leipzig. Zu dieser Zeit setzt das Buch ein: Die Immatrikulation steht der jungen Frau bevor, es ist das Jahr 1954. Und diese Erfahrung verdeutlicht Novak, wie durchsetzt bereits ihr Eintritt ins Erwachsenenleben von dem Bewusstsein ist, mitspielen zu müssen – oder unterzugehen.

"Fast hätte ich die Wahrheit gesagt und durch ein einziges Wort meinen Studienplatz verloren." Die Frage, welches Buch sie als letztes gelesen hat, kann die junge Helga Novak nicht beantworten, ohne ihre Zukunft aufs Spiel zu setzen. Und so erinnert sie sich später nur noch an die Angst, mit der sie den Zarathustra versteckt hat. An das Gelesene selbst hat sie keine Erinnerung mehr.

"Während der ganzen Studienzeit stießen meine Neugier, mein Wissensdrang, mein Bedürfnis nach Aufklärung an staatliche Grenzen. Das beleidigte, verletzte mich. Meine Gutwilligkeit zerstob." Von Anfang an beschreibt die Autorin sich also als Einzelgängerin, als wache Denkerin, die das verlogene System der Unterdrückung jeglicher Individualität durchschaute. Ihren Glauben an den Sozialismus behält sie dennoch ein Leben lang bei. Diese Selbstdarstellung mag einer sehr subjektiven Perspektive entspringen und womöglich geschönt sein. Novak nennt jedoch auch diejenigen Daten, auf die sie heute weniger stolz sein kann. Dazu gehört zum Beispiel die Anwerbung als IM – die Gründe dafür, einen solchen Vertrag anzunehmen, sind ohnehin bekannt. Abhängigkeit, Erpressung, Bestechung, es braucht schon eine besondere Integrität, um sich dagegen verwehren zu können.

Anders als die meisten DDR-BürgerInnen verweigert sich Novak jedoch dem Aufruf zur Selbstkritik vor ihren KommilitonInnen und geht mit ihrem Freund, einem isländischen Gaststudenten, nach Island. In der DDR drohen ihr Exmatrikulation und jahrelange Fabrikarbeit. Einsamkeit und Selbstzweifel, Unsicherheit über die Rolle ihrer FreundInnen bei ihrer Verstoßung beschäftigen sie in den Jahren im Ausland.

Und ihr Leben bleibt unruhig. In Island auch nach Jahren nicht wirklich angekommen, geht sie in die DDR zurück, landet doch noch in der Fabrik, wo sie sich wohler fühlt als erwartet. Die Solidarität der Frauen untereinander hilft ihr überleben. Die Kinder lässt sie in Island: "Mich verfolgte ein verdammt schlechtes Gewissen wegen der Kinder, und dennoch war mir klar und deutlich bewusst, ich würde nie eine rechte Mutter werden. Nichts machte mir mehr Angst als die Vorstellung, meine Kinder großziehen zu müssen. [...] Hab nicht den geringsten Schimmer, was Mutterliebe ist."

Nicht nur in ihrer Beziehung zu den Kindern legt Novak Wert auf ihre Unabhängigkeit. Auch ihre Liebesbeziehungen sind ähnlich unkonventionell. So hat sie parallel mehrere Beziehungen mit Männern, behält ihre DDR-Staatsbürgerschaft so lange wie möglich und bemüht sich zugleich um die isländische. Leicht macht sie es sich dadurch nicht, ebenso wie bei dem Kampf um die Anerkennung als Schriftstellerin. Ihre Reisen durch Italien, beide Deutschlands, Jugoslawien und Island, schildert sie mit einer Lakonie, die die Härte darin fast überlesen lassen: Monatelang überlebt Novak nur, weil sie täglich Bettelbriefe an alte Bekannte schreibt oder auf der Straße bettelt, hofft bei einer Einladung eines Verlags beinahe mehr auf ein belegtes Brot als auf einen Buchvertrag.

Dass das Buch mehrere Jahrzehnte gereift ist, ist ihm anzumerken. Anders als die beiden Vorgängerromane, "Die Eisheiligen" (1979) und "Vogel federlos" ist "Im Schwanenhals" aus der Distanz entstanden, hatte die Autorin Zeit, alte Tagebucheinträge, Briefe, ihre Stasiakten einzuarbeiten. Ihre Wut auf ein Regime, das zu viel Macht ausüben konnte, ihre Scham über die eigene Mutlosigkeit und die Hoffnung auf eine bessere DDR sind heute noch aus jeder Zeile zu lesen. Das Buch endet mit der Beschreibung ihrer Liebe zu dem verfolgten Regimekritiker Robert Havemann und einem Gedicht aus Wendezeiten, das ihre erneute Angst und ihr Misstrauen gegenüber der Umwelt ausdrückt.

AVIVA-Tipp: "Im Schwanenhals" ist nur in zweiter Linie ein autobiografisches Werk, auch wenn die ungewöhnliche Persönlichkeit Helga M. Novak eine faszinierende Protagonistin darstellt. In erster Linie ist es eine Darstellung der beengenden, paranoiden Atmosphäre eines Staates, der seinen eigenen BürgerInnen nicht traute. Es ist auch die Darstellung des Versuchs, den eigenen Prinzipien treu zu bleiben.

Zur Autorin: Helga M. Novak wurde 1935 in Berlin-Köpenick geboren. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Bremer Literaturpreis, den Kranichsteiner Literaturpreis des Deutschen Literaturfonds, den Brandenburgischen Literaturpreis, den Ida-Dehmel-Literaturpreis und den Drostepreis der Stadt Meersburg. (Verlagsinformationen)

Helga M. Novak
Im Schwanenhals

Schöffling & Co. Verlag, erschienen am 7. August 2013
352 Seiten. Leinen. Lesebändchen
21,95 Euro
ISBN 978-3-89561-119-3

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Claire Horst