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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 09.12.2013


Whitney Chadwick - Frauen, Kunst und Gesellschaft
Lea Albring

Als sie beschloss, einen Kanon weiblichen Kunstschaffens zu verfassen, stellte sich die Wissenschaftlerin einer unfassbaren Mammutaufgabe. Herausgekommen ist ein bahnbrechendes Buch, das längst...




... zum Standardwerk geworden ist. In seiner fünften Ausgabe erscheint es nun erstmals auf Deutsch.

Wissenschaftskritik und Neubewertungen

Nein, eine Katalogisierung von Künstlerinnen ist "Frauen, Kunst und Gesellschaft" nicht, der Titel zeigt bereits an, dass das Werk über diese quantitative Dimension weit hinausreicht. Die zentrale Qualität des Buches besteht darin, dass die Autorin kontextualisiert, reflektiert und kritisiert – und dies abseits von historisch gewachsenen Deutungskonventionen und Bewertungsschemata. Sie analysiert die Rolle der Frau in der Kunst sowohl unter politischen, geographischen und kulturellen Prämissen radikal neu. Auch mit Kritik am eigenen Fach hält sich die Wissenschaftlerin nicht zurück: "Frauen sind eher Objekte der Darstellung als Kunstschaffende in einer Kunstgeschichte, die allgemein anhand von "Alten Meistern" und "Meisterwerken" beleuchtet wird." Chadwick nimmt eine Dekonstruktion dieser Denkmuster vor, indem sie die Einordnungs- und Klassifizierungsmechanismen von Künstlerinnen und ihren Kunstwerken hinterfragt, neu evaluiert und Alternativen vorschlägt. Sprachliche Normen, die unreflektiert eine Geschlechterdifferenz voraussetzen, kritisiert sie dabei genauso wie die Diskrepanz zwischen weiblicher Produktion und weiblicher Abbildung in der Kunst.

Vom Mittelalter bis in die Gegenwart

Der Bogen, den die Autorin schlägt, ist groß. Nach einer Einführung wendet sie sich zunächst dem Mittelalter zu. Für eine Zeit, die das Konzept des männlich konnotierten Originalgenies noch nicht kennt, so moniert Chadwick, kann die Künstlerinnenrolle der Frau mit dem gängigen wissenschaftlichen Vokabular und seinen Dogmen nicht adäquat erfasst werden: Gemeinschaftsarbeiten zeugen davon, "wie schwierig es ist, mittelalterliche bildliche Erzeugnisse in kunsthistorische Kategorien zu pressen, die von schöpferischen Einszellleistungen ausgehen und davon, dass diese von einem Mann stammen."
In insgesamt 16 Kapiteln arbeitet sich die Wissenschaftlerin durch die Kunstepochen und durchbricht dabei die vorherrschenden Paradigmen immer wieder. Neben berühmten Malerinnen hebt sie vehement auch den Einfluss von weniger bekannten Künstlerinnen hervor. Im letzten Kapitel landet sie schließlich in der Gegenwart und reflektiert kunstschaffende Frauen in einer globalisierten und digitalisierten Welt.
"Dieses Buch soll eine generelle Einführung in die Geschichte der Beteiligung von Frauen in den bildenden Künsten sein.", schreibt Chadwick in ihrem Vorwort. Angesichts dessen, was sie geschaffen hat, nimmt sich dieser Anspruch als viel zu bescheiden aus. Mit ihrem Buch hat sie eine klaffende Lücke im kunsthistorischen Diskurs geschlossen und eine neue Sichtweise auf Künstlerinnen und ihre Kunst etabliert.

AVIVA-Tipp: Für feministische KunsthistorikerInnen ist das Werk eine Pionierarbeit mit Vorbildcharakter. Allerdings gehört dieses Buch nicht nur in das Bücherregal von ProfessorInnen. Ohne der trockenen Wissenschaftsschreibe zu verfallen, fasst Chadwick komplexe Inhalte prägnant zusammen, ihr Blick auf das weibliche Kunstschaffen ist pointiert und dennoch weit gefasst – ein Standardwerk, das mit Standards bricht.

Zur Autorin: Whitney Chadwick ist emeritierte Professorin der San Francisco State University. Schwerpunkt ihrer Forschungen war der Einfluss von Frauen in der bildenden Kunst, unter anderem schrieb sie über die Malerin und Bildhauerin Romaine Brooks ("Amazons in the Drawing Room: The Art or Romaine Brooks", 2000). Ein weiterer Fokus ihrer Arbeit war immer wieder der Surrealismus, 1988 veröffentlichte sie "Myth in Surrealist Paintings, 1929-1939", drei Jahre später folgte "Women Artists and the Surrealist Movement". Die Übersetzung von "Women, Art and Society" (1990) ist bisher ihr einziges Buch, das auf Deutsch erschien.
Die Autorin im Netz:
Kurzportrait auf den Seiten des Radcliffe Institute for Advanced Study of Havard University

Whitney Chadwick
Frauen, Kunst und Gesellschaft

Originaltitel: Women, Art and Society
Ãœbersetzt von Ute Astrid Rall
Deutscher Kunstverlag, erschienen: 2013
Gebunden, 528 Seiten mit ca. 85 farbigen und ca. 232 schwarzweißen Abbildungen
ISBN: 978-3-422-07180-3
29,80 Euro
www.deutscherkunstverlag.de


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Beitrag vom 09.12.2013

AVIVA-Redaktion