Katharina Hartwell - Das fremde Meer - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 12.12.2013


Katharina Hartwell - Das fremde Meer
Evelyn Gaida

"Mach dir keine Sorgen, halte still, halte dich gerade, halte Ausschau, warte, bis sich eine Tür öffnet, jemand den Raum betritt, jemand deinen Namen sagt, jemand durch die Fluten, durch den Wald,...




... durch die Straßen, durch die Nacht zu dir kommt und dich findet in der Stadt, die nie dieselbe bleibt, in dem Wald, in dem es immer schneit, in den Kellern der Kliniken und Fabriken, hoch über den Wolken und an der tiefsten Stelle des Meeres."

Sätze wie dieser sind bezeichnend für die Magie der Sprachwelt, die Katharina Hartwell in ihrem Debütroman bereist.

Die Konstruktion des Romans ist ebenso klar und einfach wie komplex und vielschichtig. Zehn Geschichten, aufgefächert in immer weitere, erzählen Variationen einer tiefen Liebe, Variationen der Angst, die ihre lähmenden Finger zusammenschließt wie der Tod, und Variationen einer Rettung.

Hartwell bewegt sich frei zwischen verschiedenen Genres: Märchen, Dystopie, Science Fiction, Phantastik, Legende, Schauergeschichte, historische Erzählung. Ausgangspunkt sind Jan und Marie, ist die Rahmenhandlung, die in die zehnte und letzte der Geschichten mündet. Sie konfrontiert mit einer ungeahnten Wendung und bündelt die Bezüge der vorhergegangenen Erzählungen. Oder reiht sie sich selbst ins übertragende Spiegelkabinett der Sprachbilder ein?

Neun der Erzählungen siedeln durchweg in Sphären außerhalb wissenschaftlich anerkannter Realität und konventioneller Normalität, mit deren Grenzen die Autorin spielt. Außerhalb stehen in vieler Hinsicht auch Jan und Marie, ein Kunststudent und eine Doktorandin, obwohl ihr Leben ganz in eine studentische Szenerie der heutigen Gegenwart ohne Fabelwesen und übernatürliche Erscheinungen eingelassen ist. Dafür hat sie unter anderem FreeCell, Post-its, KommilitonInnen und soziale Ängste zu bieten.

Marie wird von der Furcht verfolgt, "man werde mir auf die Schliche kommen, etwas herausfinden über mich", einen Fehler und Makel, dessen Enthüllung sie "angespannt und voll böser Vorahnung" entgegensieht. Bei jeder Party wartet Marie darauf, als Fremdkörper und "Störgeräusch" mit einem "Kopf voller unpassender Bemerkungen" irgendwann diskret aus dem Raum geführt zu werden. Jan ist beliebt und kennt viele Leute, hat jedoch alptraumhafte Angst vor Spinnen und davor, zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. "Wir kannten und sahen dieselbe Welt. Sie war voller Risse und Falltüren und Unsicherheiten und Abgründe", schreibt Marie über ihre besondere Verbindung zueinander.

Wie Jan und Marie fallen auch die Figuren der neun Geschichten aus allen möglichen Rahmen, bewegen sich an Rändern der Gesellschaft oder gar der Welt, nehmen Dinge wahr, die für andere nicht existieren oder keine Rolle spielen. Moira aus den dystopischen "letzten Tagen in der Wechselstadt", spürt hinter der bekannten Welt eine andere, durchscheinende, der das Sichtbare nur wie eine Folie vorgelagert ist. Jaques in "Astasia-Abasia" kann nicht begreifen, wie es den Menschen außerhalb der Pariser Psychiatrie Salpêtrière gelingt, alles Inkommensurable größtenteils auszublenden."Ich fürchte mich", hält Marie zu Beginn des Romans in lakonischer Hervorhebung fest, wie eine Keimzelle ihres Erzählens.

Diese und andere Stellen lassen unschwer erkennen, dass Rilkes bahnbrechender Roman "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" eine maßgebliche Inspiration für Hartwells Debüt war. Das irritiert im ersten Teil von "Das fremde Meer" aufgrund seiner Deutlichkeit etwas, auch an die Unterteilung des Geschehens in separate Geschichten muss die Leserin sich erst gewöhnen. Hartwells Erzählen geht einen ruhigen und geordneten Gang, in dem die Bedrohungen und Konflikte ihrer Figuren auf den ersten Blick keine wirkliche Entsprechung finden.

Es entsteht jedoch etwas anderes: Der sprachliche Bannkreis einer ruhigen Kraft, die sich immer wieder zu intensiven, poetischen Sprachbildern und brillanter Klarheit verdichtet. Es wird geschildert, nicht aufgeschrien, und schließlich eine Dimension erschlossen, die ihren eigenen Gesetzen folgt: Ein Freiraum abseits kommunikativer Zwangsjacken und abgepackter Erlebnisinhalte. Dabei parodiert die studierte Anglistin und Amerikanistin Hartwell akademische Terminologie, Branding-Sprache und deren Weltaneignung, indem sie die Satzung (das "Ghostmanual") einer Firma ("Ghostpreservations Inc.") entwirft, die mittels "Spiritographie" krank machende "Bewusstseinsfragmente" von Verstorbenen aus der Atmosphäre tilgt...

Umfangen wird all das von einer Liebesgeschichte, die sich schrittweise zusammensetzt, sparsam, zart und außergewöhnlich. Marie geht vom Ich-Erzählen zu einem "Du" über, das vorsichtige Nähe und die liebevolle Hinwendung von Marie zu Jan in jeder Zeile spürbar macht. So handeln alle zehn Erzählungen vom Versuch einer Rettung aus Erstarrung und Gefangenschaft, hinein in den freien Fall, das Risiko Leben. Die traditionellen Märchen- und Geschlechterrollen sind vertauscht, bunt durcheinandergemischt wie in einem Kartenspiel. Gerettet werden soll überwiegend eine männliche Figur durch eine weibliche. Auch wenn das Leben abgesehen von Feuerwehr und Krankenwagen meistens keine Rettung von außen kennt, lässt dieser Roman glauben, dass alles möglich ist.

AVIVA-Tipp: Katharina Hartwell hat einen außergewöhnlichen Debütroman geschrieben. Inspirierend komponiert, von großer sprachlicher Kraft und Klarheit, lässt "Das fremde Meer" menschliche Erlebnis- und Ausdrucksfähigkeit leuchten.

Zur Autorin: Katharina Hartwell, 1984 in Köln geboren, studierte in Frankfurt a.M. mit Auszeichnung Anglistik und Amerikanistik. Seit 2010 studiert sie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Im selben Jahr erschien ihr Erzählungsband Im Eisluftballon. Katharina Hartwell war u.a. Gewinnerin des MDR-Literaturpreises und Stipendiatin der Jürgen-Ponto-Stiftung und des Landes Hessen. 2013 ist sie Sylter Inselschreiberin und Stipendiatin am Literarischen Colloquium Berlin. "Das fremde Meer" ist ihr erster Roman.

Katharina Hartwell
Das fremde Meer

Berlin Verlag, erschienen 16. Juli 2013
Hardcover, 567 Seiten
ISBN-13: 9783827011374
22,99 Euro

Weitere Informationen finden Sie unter:

berlinverlag.de

Diesen Titel können Sie online bestellen bei FEMBooks

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Schreiben ist ein Hinwenden zu den Dingen, die mir Angst machen - Katharina Hartwell im Interview

Die Einsamkeit der Primzahlen – Ein Film von Saverio Costanzo mit Alba Rohrwacher, Luca Marinelli und Isabella Rossellini

Sigrun Casper (Hrsg.) - Außenseiter

María Sonia Cristoff - Unter Einfluss

Margaret Atwood - Das Jahr der Flut




Literatur

Beitrag vom 12.12.2013

Evelyn Gaida