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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 19.05.2014


Grace Paley - Ungeheure Veränderungen in letzter Minute
Lisa Sophie Kämmer

Die große alte Dame der amerikanischen Shortstory erzählt in wundersamer Komik alltägliche New Yorker Geschichten von überforderten Müttern, arroganten Kerlen, "zweijährigen quäkenden ...




... Quenglern und Wochenendschwulen."

Auf eine zynische Bemerkung der von der Trivialität ihres Alltags sichtlich gelangweilten Protagonistin Faith folgen Beschreibungen des eigenen sozialen Milieus, die die LeserInnen bereits auf den einzigartigen Erzählstil Grace Paleys einstimmen: auf die bildreichen Verdichtungen ihrer Kurzgeschichten, ihre dabei ungeschönte Schonungslosigkeit und umgangssprachliche Derbheit sowie die Rekrutierung ihrer AkteurInnen aus den Reihen sozial Benachteiligter – vornehmlich alleinerziehender Mütter.

"Gerade als ich tiefgründige Gespräche am meisten brauchte, das heißt, einen Hauch der weiten Männerwelt oder zumindest einen gescheiten Gefährten, der meine freundliche Sprache in sein Idiom unsterblicher fleischlicher Liebe übersetzen konnte, war ich gezwungen, umgeben von Kindern, hier im Park in unserer Nachbarschaft herumzuhängen."

In der Geschichte "Faith im Baum", die wohl zu den gelungensten des vorliegenden Erzählbandes gerechnet werden darf, bestimmen auf diese Weise Frauen und Kinder der unteren New-Yorker-Schichten die gesellschaftliche Momentaufnahme, die durch die gleichnamige Protagonistin von einem Ahornbaum aus gemacht wird. Aus den eigenen Reihen ihrer Freundinnen und Nachbarinnen begegnen Faith hierbei arbeitsuchende oder gering entlohnte Mütter, die in der Mehrzahl von ihren Männern verlassen und mit der Erziehung der gemeinsamen Kinder im Stich gelassen wurden, während sich die Väter nunmehr mit jüngeren Frauen zu vergnügen wussten, die sich "zwischen den Beinen rasierten." Auch von der Zweifachmutter Faith erfährt die Leserin, dass sie von ihrem Mann sitzen gelassen wurde, der sich allerdings in regelmäßigen Abständen – wenn auch zumeist lediglich mit der Bitte um Geld – bei ihr und den Kindern meldet. In einer seiner kühnen Postkarten aus dem Süden ließ er es sich dabei nicht nehmen, auch von seiner neuen Freundin zu schwärmen:
"Eine wunderbare Frau. Erinnert mich an Dich vor zehn Jahren."

Die Schicksale, die sich in den siebzehn Kurzgeschichten von Grace Paley finden, lassen sich angesichts dieses widerkehrenden thematischen Ausgangspunkts (eine alleinerziehende Mutter sieht sich dem aus der Verantwortung stehlenden Erzeuger gegenüberstehen) dabei in ihrer gesellschaftlichen Dramatik unterscheiden. So reichen sie vom kärglichen Alltag verlassener Mehrfachmütter, die von der Fürsorge leben, bis hin zur düsteren Lebenswelt "drogenabhängiger Huren", die gegenseitig auf ihre Kinder aufpassen, "wenn sie arbeiten oder high sind." Mit einer unverfälschten Offenheit konfrontiert Paley so ihre LeserInnen mit der Radikalität des großstädtischen Lebens. Auf befreiende Komik und Selbstironie folgt knallharte Brutalität. Hoffnungen und Enttäuschungen, Liebe und Gewalt, Humor und Trauer bilden oftmals Elemente einer einzigen Geschichte, durch die das lesende Publikum in ihren Bann gezogen wird, um sogleich irritiert von seinen eigenen Empfindungen aus der Bahn geworfen zu werden.

Die von Paley in radikal heiterer Weise porträtierten weiblichen Akteurinnen nehmen dabei nicht ausschließlich die Rolle des Opfers ein. In vielen Erzählungen treten sie vielmehr als den Männern moralisch überlegen auf und beeindrucken durch ihre trocken vorgebrachte Klugheit. Einige der Frauen engagieren sich überdies auch politisch, um den eigenen gesellschaftlichen Zwängen zu entkommen und so für sich und die Kinder eine bessere Zukunft zu erstreiten. Auch Faith gelangt am Ende ihrer milieuspezifischen Beobachtungen zu der Überzeugung, ihren bisherigen Lebensstil im "testosteronstrotzenden alten Schmoddertiegel New York" zu verändern und ihr Schicksal – soweit möglich – selbstbestimmend in die Hand zu nehmen.

Neben dieser inneren Sichtweise auf die Gefühls- und Lebenswelt einzelner Frauen überzeugt der Erzählband zudem durch seine vielseitigen gesellschaftskritischen Beobachtungen, die besonders auf die Situation von Minderheiten in den USA der 1960er und 1970er Jahre abzielen. So bemerkt eine der Figuren scharfzüngig, dass der Zweite Weltkrieg aus "Juden Amerikaner und aus Negern Juden" gemacht hätte. Als Tochter jüdischer Eltern, die 1906 in die Vereinigten Staaten eingewandert waren, bildete dabei besonders das jüdische Milieu einen Fixpunkt für Paleys Erzählungen, der als solcher auch in dem vorliegenden Band klar zutage tritt.

Zur Autorin: Grace Paley, 1922 als Tochter ukrainisch-jüdischer EinwandererInnen in New York geboren, war in der Friedens-, Frauen- und BürgerInnenrechtsbewegung aktiv. Als eine der politisch engagiertesten Autorinnen der amerikanischen Gegenwartsliteratur veröffentlichte sie zahlreiche Gedichtbände und Shortstories, die vollständig in deutscher Neuübersetzung bei Schöffling & Co. erscheinen:
"Die kleinen Widrigkeiten des Lebens" (2013)
"Ungeheure Veränderungen in letzter Minute" (2014)
"Am selben Tag, später" (2015)
"Manchmal kommen, manchmal gehen" (2016)

AVIVA-Tipp: Grace Paleys "Ungeheure Veränderungen in letzter Minute" sind ohne Weiteres zu empfehlen. Dank ihres ausgeklügelten Sinns für Alltagssprache, Rhythmus und mündliches Erzählen ermöglicht Paley ihren LeserInnen, dem Sound der Straßen New Yorks zu lauschen. Auf diese Weise verleiht sie Menschen eine Stimme, die sonst kaum jemand hört und die doch inmitten unserer Gesellschaft leben. Die tiefe Dramatik, die den einzelnen Lebensgeschichten dabei zugrunde liegt, erhält durch den lakonischen Witz und die unvergleichliche Leichtigkeit der alltagssprachlichen Formulierungen Paleys eine besondere Authentizität. Die Frauenfiguren der einzelnen Erzählungen scheinen hierdurch lebendig, ihre Verzweiflung förmlich spürbar. Der Versuch jener Frauen, sich dem eigenen tristen Alltag mittels des Konterkarierens durch Humor und damit letztlich durch Sprache zu entziehen, ist es schließlich, der die LeserInnen in besonderer Weise bewegen wird.

Grace Paley
Ungeheure Veränderungen in letzter Minute

Originaltitel: Ennormous Changes at the Last Minute (1974)
Aus dem Englischen neu übersetzt von Sigrid Ruschmeier
Schöffling & Co., erschienen am 11.02.2014
255 Seiten, Leinen, Lesebändchen
ISBN: 978-3-89561-236-7
19,95 Euro
www.schoeffling.de


Weitere Infos unter:

Dokumentarfilm "Collected Shorts" (2010) zum Leben und Wirken Grace Paleys

Leslie Malton liest Grace Paley

Interview mit Grace Paley in der Boston Review, 1976

Jewish Women`s Archive

We Remember

Eine Story Paleys auf der Seite des New Yorker

Interview Paleys mit The Paris Review

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Grace Paley - Die kleinen Widrigkeiten des Lebens




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Beitrag vom 19.05.2014

Lisa Sophie Kämmer