Marek Edelman - Die Liebe im Ghetto. Aufgeschrieben und mit einem Vorwort von Paula Sawicka - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 11.07.2014


Marek Edelman - Die Liebe im Ghetto. Aufgeschrieben und mit einem Vorwort von Paula Sawicka
Helga Egetenmeier

"Warum fragt mich niemand, ob es im Ghetto Liebe gab? Warum interessiert das niemanden? Nur sie hat es uns ermöglicht weiterzuleben." Der neunzigjährige Marek Edelman ließ kurz vor seinem Tod...




...Antworten auf diese ihm wichtigen Fragen zum Widerstand im Warschauer Ghetto von Paula Sawicka niederschreiben, die im März 2013 auch auf Deutsch erschienen sind.

Unter dem Titel "Das Ghetto kämpft" veröffentlichte der Widerstandskämpfer des Warschauer Ghettos, der auch beim Warschauer Aufstand 1944 und in den 80er und 90er Jahren in der Gewerkschaft Solidarnosc aktiv war, bereits 1945 seine Erfahrungen und Erinnerungen, die er durch dieses Buch erweitert.

Zwei frühere Reden rahmen Edelmans schriftliches Andenken an die ermordeten Menschen des Holocaust ein und fordern Lehren für die Gegenwart. In der Ansprache "Das Böse kann wachsen" (2005) verlangt er: "Wir müssen in den Schulen, in den Kindergärten und an den Universitäten lehren, dass das Böse das Böse ist, dass der Hass das Böse ist und die Liebe eine Pflicht." Mit seinem Vortrag "Über die Erinnerung" (1995) schließt das Buch, in dem seine Hoffnung der Jugend gilt: "Wir dagegen sind eine verlorene Generation. Man muss der Jugend wieder beibringen, dass das Erste und Wichtigste das Leben ist, erst danach kommt die Bequemlichkeit."

In loser Chronologie erzählt Marek Edelman von seinen Erinnerungen an LehrerInnen, MitschülerInnen, FreundInnen und deren Familien, Arbeiten und Zugehörigkeiten zu Organisationen. "Rubin Lifszyc hatte eine jüngere Schwester. Der Vater war ein sehr gefragter Zahnarzt. Auch Rubin haben wir zu Haus besucht, aber selten, weil dort immer dicht gedrängt Patienten herumsaßen. Seine Mutter, Estusia, war eine Freundin meiner Mutter, und beide gehörten der JAF an, der jüdischen Frauenorganisation, die natürlich auch zum Bund gehörte."

Mit "Die Liebe im Ghetto" erinnert der durch seine schlichte Prosa beeindruckende Erzähler Edelman daran, dass neben dem den Alltag bestimmenden Terror und Tod, auch das Geben und Nehmen von inniger Zuneigung bis verbindender Liebe ein Teil des Lebens als auch des Sterbens war. Hendusia Himelfarb, eine Schulfreundin Edelmans, entschied sich dafür, einhundertfünfzig verängstigte Kinder nicht allein in die Waggons steigen zu lassen. "Sie blieb bei ihnen, dabei wusste sie, was passieren würde. War es aus einem Verantwortungsgefühl oder aus Liebe zu ihnen? Damals war das dasselbe."

Für die auf engstem Platz eingesperrten vierhunderttausend Menschen des Ghettos zerbrach der nationalsozialistische Terror und die damit einhergehende Brutalität gewohnte Familienstrukturen und Generationengrenzen. Bernard Goldsztajn, der Vater von Marek Edelmans Mitschüler Janek, wurde durch den gemeinsamen Widerstand sein Freund. Gegen die tödlichen Gefahren von Bespitzelung und Verrat zog es Goldsztajn, wie Edelman zitiert, vor, "an hübsche Mädchen zu denken, anstatt daran, dass ihn jemand verraten könnte."

Das Buch schließt mit einem ausführlichen biographischen Anhang, durch den Marek Edelman die LeserInnen an weiteren Erinnerungen teilhaben lässt und damit diese, wie es sein Wunsch ist, bewahrt. "Ich bin der Letzte, der diese Menschen mit Vornamen und Nachnamen kannte, und wahrscheinlich wird sich außer mir niemand mehr an sie erinnern. Es sollte eine Spur von ihnen bleiben."

AVIVA-Tipp: Eindrücklich direkt und schnörkellos lenkt Marek Edelman den Blick der LeserIn auf den Alltag im Ghetto, ohne dadurch dessen Grausamkeit zu verdecken. Gerade durch "die Liebe" als Metapher für "Mensch sein", ließ sich für ihn der lebensnotwendige Mut aufbringen, um sich gegen Terror und Massenmord zu wenden, einen Mut, den Edelman mit diesem Buch auch heute gegenüber angstvollem Schweigen vor brutalen Machtapparaten einfordert.

Zum Autor: Marek Edelman, 1921 (manche Quellen nennen das Jahr 1919) in Warschau geboren, war ein Anführer des Aufstands 1943 im Warschauer Ghetto. Nach Kriegsende studierte Edelman Medizin in Lodz und arbeitete dort als Kardiologe. Später engagierte er sich in der Gewerkschaft Solidarnosc. Sein Buch "Das Ghetto kämpft" schrieb er 1945 in London unter dem Einfluss der Befreiung vom Faschismus, es wurde 1993 mit einem Vorwort von Ingrid Strobl auf Deutsch veröffentlicht. Die Geschichte seines Lebens wurde auch im Film aufgegriffen, wie in "Chronik des Aufstandes im Warschauer Ghetto" von Jolanta Dylewska (Dokumentarfilm, Polen 1993) und "Uprising - Der Aufstand" von Jon Avnet (Spielfilm, USA 2001).
Marek Edelman starb im Jahr 2009 in Warschau.

Zu Paula Sawicka: Psychologin, Dozentin, Übersetzerin aus dem Englischen und Solidarnosc-Gefährtin von Marek Edelman. Sie engagierte sich in der demokratischen Opposition und wirkte nach 1989 an der Schaffung eines freien Polens mit. Seit 2004 ist sie Vorstandsvorsitzende der Gesellschaft Offene Republik, sie nahm 2006 mit ihrem Mann Marek Edelman bis zu dessen Lebensende bei sich zuhause auf.

Zur Übersetzerin: Joanna Manc, geboren 1959 in Gdynia, lebt seit 1968 in Frankfurt am Main. Sie studierte Germanistik, Romanistik und Slawistik und ist seit 1994 Übersetzerin aus dem Polnischen. 2006 erhielt sie den Förderpreis des Europäischen Übersetzerpreises Offenburg.

Marek Edelman
Die Liebe im Ghetto

Aufgeschrieben und mit einem Vorwort von Paula Sawicka
Originaltitel: I byla milosc w getcie. Erstveröffentlichung: 2009
Aus dem Polnischen von Joanna Manc
Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, erschienen März 2013
Hardcover mit Schutzumschlag, Lesebändchen, Gebunden, 176 Seiten
ISBN-13: 978-3-89561-418-7
18,95 Euro
www.schoeffling.de

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Weitere Infos unter:

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Pädagogik und NS-Zeit: Video zum Aufstand im Warschauer Ghetto

Deutschlandfunk: Die außergewöhnliche Freundschaft eines Widerstandkämpfers


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Beitrag vom 11.07.2014

Helga Egetenmeier