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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 06.10.2014


Amy Tan - Das Kurtisanenhaus
Claire Horst

Dass sie fesselnde Schmöker schreiben kann wie kaum eine Zweite, bewies die chinesisch-amerikanische Schriftstellerin mit ihrem später erfolgreich verfilmten Erfolgsroman "Töchter des Himmels".




An ihrem aktuellen Werk hat Amy Tan acht Jahre lang gearbeitet. Angeregt zu dem Thema wurde sie von einem Zufallsfund, den Fotografien ihrer chinesischen Großmutter in der traditionellen Kleidung einer Kurtisane: "Ich war schockiert, verblüfft, erstaunt und verspürte die Erregung einer Schriftstellerin, die auf ein Geheimnis gestoßen war, das die Entdeckung neuer Wahrheiten in sich trägt. Die Vorfahren beider Seiten unserer Familie galten stets als Ausbund an Tugendhaftigkeit, als vorbildliche Patrioten, als Diener der Familie, Gottes und/oder des Vaterlands."

Auf 700 Seiten bündelt die Autorin historische Fakten zu Shanghai an der Wende zum 20. Jahrhundert, Fantasien über den Alltag einer Kurtisane und eine dramatische Mutter-Tochter-Beziehung zu einem Epos, das sich über 40 Jahre und zwei Kontinente zieht. Haupterzählerin ist Violet, die anfangs als Siebenjährige in einem Kurtisanenhaus in Shanghai lebt. Leiterin des Hauses ist ihre Mutter Lulu Minturn, eine geschäftstüchtige und attraktive Amerikanerin. Lulu ist nicht einfach Leiterin eines Edelbordells. Sie ist Geschäftsfrau, Netzwerkerin und vor allem eine selbstbewusste und starke Persönlichkeit.

Violet wächst in dem Bewusstsein auf, etwas Besonderes zu sein: Als Amerikanerin fühlt sie sich den Chinesinnen überlegen, die für ihre Mutter arbeiten, zudem ist sie Angehörige der wohlhabenden Oberschicht. Diese Wahrnehmung ändert sich zunächst ganz allmählich: Ist Violet wirklich Amerikanerin? Und sind Weiße wirklich mehr wert als Asiatinnen? Dann tritt eine abrupte Veränderung ein, die Violets Selbstbild und ihr gesamtes Leben ins Wanken bringt. Mit dem Ende des Kaiserreichs und der Ausrufung der Republik 1912 beschließt Lulu, China zu verlassen und mit Violet in die USA zurückzukehren.

Dieser Plan geht gründlich schief. Mimi landet allein in Amerika, die 14jährige Violet in einem Kurtisanenhaus, wo ihre Defloration an den Meistbietenden verkauft wird. Trotz dieser Exposition, die an einen Schundroman erinnern könnte, ist die Romanhandlung weder seicht noch deprimierend. Denn eher als von der Lust am wohligen Schauder scheint Amy Tan von der Neugier auf eine vergangene Epoche geleitet, von dem Bedürfnis, sich in vollkommen fremde Biografien hineinzuversetzen. Die Details dieser Biografien entblättert sie erst ganz allmählich – und das lässt den Roman so fesselnd werden.

Abwechselnd erzählen die beiden Frauen ihre jeweiligen Geschichten, erfahren wir, wie Mimi überhaupt in Shanghai gelandet ist und was sie zur Betreiberin eines Kurtisanenhauses gemacht hat. Beinahe zu stark, zu unabhängig, um noch überzeugend zu wirken, zeichnet Tan ihre Frauenfiguren – und macht sie gerade mit dieser Stärke so sympathisch.

Und eine dritte Frauengestalt begleitet die Leserin wie eine Reiseführerin durch den Roman: Zauberkürbis. Von Lulu vertrieben, als sie mit Ende Zwanzig zu alt für ein "erstklassiges" Kurtisanenhaus wurde, findet sie die jugendliche Violet und übernimmt deren Ausbildung und Betreuung. Ihre Anweisungen sollen dem Mädchen einerseits zu mehr Erfolg verhelfen, andererseits zum einfachen Überleben in einem knallharten Business. Dabei erinnern sie deprimierender Weise manchmal an die Tipps, die Cosmopolitan und Co. heute noch an paarungswillige Leserinnen austeilen:

"Wenn du einen Gast mit deinen Augen betören willst, warte, bis er dich anschaut. Sieh erst an ihm vorbei. Bevor du den Blick ganz kurz erwiderst. Wenn der Abend vorbeischreitet, lass deine Augen auf ihm ruhen, jedes Mal ein bisschen länger. Und lächle von Mal zu Mal mehr, sodass seine Zuversicht zunimmt."

Wie sich Violets Blick auf die Welt, wie sich auch ihr Selbstbild allmählich verändert, das ist genauso spannend zu lesen wie die wachsende Freundschaft zwischen den beiden Frauen. So formuliert auch die Autorin ihre Schreibmotivation als das Bedürfnis, Fragen zur eigenen Identität in eine fiktive Form zu packen:
"Welche Umstände formten das Leben meiner Großmutter, ihre Meinungen, ihre Ansichten, ihre Gewohnheiten? Was hat sie an meine Mutter weitergegeben und was davon hat meine Mutter an mich weitergegeben? Was in mir kann von einem rebellischen Teenager oder einer gepeinigten Witwe abstammen? Ein Teil der Antwort auf die Frage, wer sie war, steckt in mir. Wenn ich lange genug an einem Schreibtisch sitze, erkenne ich ein bisschen mehr von ihr und von mir selbst."

Für die Schilderungen des Kurtisanenlebens, aber auch des Lebens chinesischer Bauern um die Jahrhundertwende hat die Autorin umfassend recherchiert – und lässt die unterschiedlichen Jargons und Redeweisen ihrer ProtagonistInnen, die Codes der Geschäftswelt, der Mafia und der Kurtisanen hörbar werden.

Und natürlich, wie es sich für einen Schmöker gehört, gibt es neben vielen deftigen und teilweise auch ziemlich abstoßenden Szenen aus dem Leben einer Edelprostituierten auch genug Liebesromantik, um ein paar düstere Herbsttage auf dem Sofa zu versüßen. Allzu schnulzenhaft ist der Roman trotz aller Romantik jedoch nicht – was auch an der gelungenen Nachzeichnung des historischen Kontextes liegt. Das vergangene China lässt Amy Tan nicht nur mittels reichlich Lokalkolorit, ausschweifend beschriebener Kleidung und Landschaften auferstehen, sondern auch anhand der Schilderung von kulturellen Regeln und Normen, mit denen Violet und Lulu kämpfen.

AVIVA-Tipp: Ob das Leben chinesischer Kurtisanen nun genauso aussah, wie die Autorin es imaginiert, ist gar nicht so wichtig. Ihre Frauenfiguren sind spannend genug, um ihnen durch die Jahrzehnte zu folgen und Shanghai mit ihren Augen kennenzulernen. Und gerade für BerlinerInnen ist ein Detail besonders interessant: Im Roman spielt ein Landschaftsbild mit dem Titel "Das Tal der Verwunderung" eine tragende Rolle. Amy Tan weiß nicht mehr, welches Werk aus der Berliner Nationalgalerie sie dazu animiert hat – vielleicht ein Grund, sich auf die Suche nach diesem Werk zu machen?

Zur Autorin: Amy Tan wurde 1952 als Tochter chinesischer AuswanderInnen in Oakland, Kalifornien, geboren. Ihr Vater und ihr Bruder starben, als sie fünfzehn Jahre alt war. Ihre Mutter, Tochter einer wohlhabenden Familie in Shanghai, musste drei Töchter aus erster Ehe in China zurücklassen. Mittlerweile gehört Amy Tan zu den erfolgreichsten amerikanischen Schriftstellerinnen. Mit ihren Büchern "Die Frau des Feuergottes" und "Töchter des Himmels", die in 35 Sprachen übersetzt wurden, erreichte sie ein Millionenpublikum. Amy Tan lebt heute mit ihrem Mann in San Francisco und New York. (Verlagsinformationen)

Die Autorin im Netz: www.amytan.net

Amy Tan im TED-Talk über Kreativität: www.ted.com

Amy Tan
Das Kurtisanenhaus

Originaltitel: The Valley of Amazement
Aus dem Amerikanischen von Elke Link
Random House, erschienen im September 2014
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 704 Seiten
ISBN: 978-3-442-31137-8
22,99 Euro

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Claire Horst