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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 17.02.2015


Etel Adnan - Sitt Marie-Rose
Claire Horst

Nur 120 Seiten hat dieser 1977 auf Französisch erschienene Roman. Und auf diesen wenigen Seiten schildert die bekannteste libanesische Schriftstellerin das ganze Elend des Bürgerkriegs. Auf zwei...




... verschiedenen Zeitebenen, erzählt von mehreren Stimmen, entfaltet sich die Geschichte von Sitt Marie-Rose, die auf der wahren Geschichte von Marie Rose Boulos basiert.

Die syrische Christin Boulos hatte während des libanesischen Bürgerkriegs gehörlose Kinder unterrichtet und sich für palästinensische Flüchtlinge engagiert. Sie wurde von christlichen Milizen ermordet. Dass das Buch 1977 nur im muslimischen westlichen Teil von Beirut beworben wurde, jedoch nicht im mehrheitlich christlichen Osten der Stadt, zeigt die Brisanz des Themas.

Adnan lässt ihren Roman mit einer namenlosen weiblichen Erzählstimme beginnen. Diese Stimme berichtet von einem Konflikt mit einem Freund, dem Filmemacher Mounir. Sie soll für ihn ein Skript für einen Film schreiben, der syrische Arbeiter in Beirut darstellt. Doch sie wehrt sich gegen die klischeehaften Darstellungen, die Mounir vorschweben, und drängt auf eine realitätsnahe Schilderung. Kriegsberichterstattung statt Ethnokitsch, ein klarer politischer Standpunkt statt pittoresker Idylle. Und noch an einem weiteren Punkt übt sie Kritik: an der Rolle der Frauen im Libanon. Ironisch äußert sie sich über Mounir und seinen Freundeskreis, über ihre Kriegsspiele und ihren Unwillen, Frauen als gleichberechtigt zu betrachten.

Der zweite und längere Teil des Buches setzt mit der Perspektive einer Schulklasse ein. Die "Taubstummen" sprechen immer im Plural, sie treten nicht als Einzelpersonen auf. Und weil diese Kinder nicht hören und nicht sprechen, wirkt der Krieg, von dem sie erzählen, zugleich brutaler und unwirklicher als bisher. Sie erkennen am Beben der Erde, am Splittern der Fensterscheiben, dass Krieg ist, an der "merkwürdigen Ruhe", wenn Waffenstillstand ist. Und vor allem lieben sie ihre Lehrerin Sitt Marie-Rose, die von vier Männern verhaftet wurde.

Es braucht ein wenig Zeit, sich in die verwobenen Strukturen dieses Textes einzulesen. In den vier Männern Mounir und seine Freunde wiederzuerkennen und in Sitt Marie-Rose die Schulfreundin Mounirs, ist schmerzhaft. Marie-Rose selbst gehört die dritte Stimme, die von ihrer eigenen Entführung erzählt. Und ihre Stimme ist die eloquenteste: "Ich selbst habe mit Entsetzen ein Kidnapping in Westbeirut mitangesehen, eines jener perfiden Netze, gleich der Zunge eines vielförmigen, tausendfüßigen Tiers, und in diesen Netzen zappelten unbewaffnete Menschen wie Fische auf dem Trocknen. Ich wusste nicht, ahnte nicht einmal, daß auch ich in einem ähnlichen Netz gefangen würde, mit den gleichen ohnmächtigen Zuckungen."

Dass auch Mounir zur Sprache kommt, dass er zwischen seinem politischen Fanatismus und der sentimentalen Erinnerung an die gemeinsame Jugend zerrissen ist, macht den Roman gehaltvoll. Wäre er nicht zu hören, könnte Sitt Marie-Rose zu sehr zur Karikatur einer unfehlbaren Heldin gerinnen. Doch Mounir und seine Freunde sprechen zu hören, bringt die Denkweise der Milizen näher, die jegliche Zusammenarbeit mit den palästinensischen Flüchtlingen als Verrat an der christlichen Sache empfinden. So formuliert Tony: "Wir könnten auch ein Stamm von Geiern gegen einen Stamm von Adlern sein, es wäre dasselbe. Und in solchen Kriegen gibt es keine Gefangenen. Es gibt nichts zu fangen. So ist es eben. Man muss sie beseitigen."

Adnans Charaktere kämpfen zwar mit ihren Überzeugungen. So muss Mounir sich irgendwann eingestehen, "daß eine Frau würdige Gesprächspartnerin, Verbündete oder Feindin sein kann". An seinem Fanatismus ändert das jedoch nichts.

Fast fesselnder als die eigentliche Erzählung liest sich der dritte Teil des Buches, das autobiografische Nachwort mit dem Titel "Aufwachsen im Libanon, Schriftstellerin werden". Darin erzählt Adnan nicht nur von ihrem Aufwachsen mit mehreren Sprachen und kulturellen Einflüssen, sondern auch vom wachsenden Bewusstsein, "anders" als die meisten Gleichaltrigen zu sein: "In einem Jungenanzug zu stecken machte mich sehr glücklich. (...) Der Anzug muß meine Identität bekräftigt haben – weder ausschließlich Mädchen noch ausschließlich Junge, sondern ein Wesen mit Eigenschaften von beiden." Diese Nicht-Zugehörigkeit, der Unwille, sich in vorgeprägte Muster zu fügen, zeichnet auch Adnans Romanheldin aus.

AVIVA-Tipp: Adnans Roman ist nicht nur ein Text über den libanesischen Bürgerkrieg. Sie verhandelt die Frage nach der persönlichen Integrität angesichts religiöser und ethnischer Konflikte ebenso wie die Rolle von Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft. Dass sie dazu ein komplexes Stimmengewirr sprechen lässt, zeigt die Unmöglichkeit einfacher Antworten.

Zur Autorin: Etel Adnan, Schriftstellerin und Malerin, wurde 1925 in Beirut, Libanon, geboren. Ihre Mutter war eine (christliche) Griechin aus Smyrna, ihr Vater ein (muslimischer) Syrer, ottomanischer Offizier und Stadtkommandant von Smyrna (heute Izmir). Sie besuchte französische Schulen in Beirut und nahm 1949 ein Studium der Philosophie in Paris auf. 1955 setzte sie ihr Studium in den USA fort. Von 1958 bis 1972 unterrichtete sie Geisteswissenschaften und Philosophie am Dominican College in San Rafael, Kalifornien. 1972 kehrt sie nach Beirut zurück und arbeitet als Feuilletonredakteurin der Zeitung Al-Safa. Zwei Jahre nach Ausbruch des Bürgerkriegs zieht sie nach Paris, 1979 kehrt sie nach Kalifornien zurück. Sie lebt heute in Sausalito (Kalifornien) und Paris, mit regelmäßigen längeren Aufenthalten in Beirut. (Verlagsinformationen)

Die Autorin im Netz: www.eteladnan.com

Etel Adnan
Sitt Marie-Rose

Originaltitel: Sitt Marie-Rose
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
First published in 1978 by the Editions des femmes, in Paris.
Reprinted in 2010 by the Editon Tamyras in Lebanon
Suhrkamp, erschienen im November 2014
Taschenbuch, 122 Seiten
ISBN: 978-3-518-46571-4
8,99 Euro

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Beitrag vom 17.02.2015

Claire Horst