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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 23.02.2015


Samuel Joseph Agnon - In der Mitte ihres Lebens
Lisa Sophie Kämmer

Auf dem Höhepunkt seines literarischen Schaffens in Deutschland verfasste der israelische Literaturnobelpreisträger Samuel J. Agnon 1921 die Novelle "In der Mitte ihres Lebens", in der ...




... er feinfühlig und mit ungeheurem Assoziationsreichtum den Konflikt zwischen religiöser Tradition und säkularer Moderne nachzeichnet. Ein bis heute aktuelles Prosastück, das nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt.

In der Mitte ihres Lebens stirbt Tirzas Mutter Lea. Nach ihrem Tod, verursacht durch eine angeborene Herzkrankheit, die sich durch Leas schmerzliche Sehnsucht nach ihrer ersten großen Liebe verschlimmert hatte, wächst das Mädchen als Halbwaise bei ihrem Vater auf. Mit diesem Schicksalsschlag beginnen die retrospektiven Aufzeichnungen von Tirza, aus deren Perspektive die nachfolgenden Jahre ihrer Kindheit und Jugend geschildert werden.

Tirza, ein aufgewecktes, intelligentes Mädchen von etwa zehn Jahren, das über eine scharfe Beobachtungsgabe verfügt, gewährt der Leserin in der Folge intime Einblicke in ihre Gedanken- und Gefühlswelt. Diese zeichnen sich vor der Kulisse einer galizischen Provinzstadt ab, wo sie gemeinsam mit ihrem Vater lebt. Letzterer, ein durch Handel mit Getreide zu Wohlstand gelangter jüdischer Kaufmann, verfällt nach dem Tod seiner geliebten Frau in tiefe Trauer, durch die er für die Empfindungen seiner Tochter blind wird. So erkennt der trauernde Witwer nicht, wie sehr sich Tirza von ihm allein gelassen fühlt und wie sehr auch sie unter dem Verlust der Mutter leidet. Dass sich seine heranreifende Tochter, mittlerweile 16 Jahre alt, in einen Mann verliebt, den sie überdies heiraten möchte, bemerkt er so auch nicht.

Im Gegensatz zu Tirza, die aufmerksam ihre Umgebung beobachtet und ihre Erkenntnisse in poetische Sinnzusammenhänge kleidet, erfährt er von den Absichten seiner Tochter erst, als diese bereits verlobt ist. Ihr Vater, ein religiöser und konservativer Mann, der seine Tochter in Hebräisch und dem Studium der Tora unterweisen lässt, steht der Verbindung ablehnend gegenüber. Auch weil es sich bei dem Erwählten um keinen Unbekannten handelt, sondern um einen Mann, der den Frieden der Familie bereits in früheren Jahren gestört hat.

Tirza sieht sich in der Folge an das Schicksal ihrer Mutter erinnert, die in ihrer Jugend ebenfalls aus Liebe zu heiraten beabsichtigte, dies jedoch nicht durfte, da ihr Geliebter aus ärmlichen Verhältnissen stammte. Stattdessen ging sie die Ehe mit Tirzas Vater ein, mit dem sie in der Folge eine vertrauensvolle Beziehung verband, die sie ihre Jugendliebe jedoch nie vergessen ließ. Die Erinnerungen von Tirza, die mit einer überraschenden Pointe enden, zeigen so ihr Bemühen, sowohl der Autorität des Vaters als auch den eigenen Gefühlen zu folgen, ohne dabei das eigene Glück – wie damals ihre Mutter – aufzugeben.
Vor den Augen der Leserin entspinnt sich so eine heikle Gratwanderung, entlang der sich Tirza zwischen traditionellen Normen einerseits sowie dem Wunsch nach einer selbstbestimmten Lebensführung andererseits bewegt. Die junge Erzählerin, deren Sozialisation in einem konservativ-religiösen Milieu erfolgte, überrascht dabei vor allem am Ende durch kritische Reflexionen hinsichtlich ihrer Rolle als Frau. Der innere Zwiespalt jedoch bleibt. Tirza will nicht ausbrechen. Sie will ihren Vater, den sie liebt und der ihr nach dem Tod der Mutter noch geblieben ist, nicht verlieren. Sie will letztlich vor allem eines: eine gute Tochter und Ehefrau sein.

Zum Autor: Samuel Joseph Agnon gilt als einer der bedeutendsten hebräischen Prosaisten des 20. Jahrhunderts, dessen Werke in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden und der zusammen mit der Schriftstellerin Nelly Sachs 1966 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Agnon wurde 1888 in Buczacz, Galizien (heute Ukraine) geboren. Durch seine Mutter, eine belesene Frau, lernte er die deutsche Literatur kennen und schätzen. Er selbst verfasste in seiner Jugend erste Gedichte und Erzählungen auf Jiddisch und Hebräisch. Nachdem er von 1908 bis 1913 in Palästina gelebt hatte, wo er sich am "zionistischen Aufbauwerk" aktiv beteiligte, ging Agnon nach Berlin. Dort fand er eine Anstellung im 1902 gegründeten Jüdischen Verlag, in dessen Umkreis er bedeutende Intellektuelle wie Martin Buber oder Gershom Scholem kennenlernte, durch die er in der literarischen Welt der Hauptstadt Fuß zu fassen begann. In Bad Homburg, das damals ein internationales Zentrum jüdischer Kultur war und wo Agnon seit 1921 lebte, verfasste er seine berühmte Novelle "In der Mitte ihres Lebens", die bis heute fester Bestandteil im Lehrplan israelischer Schulen ist. 1924 kehrte Agnon zurück nach Palästina, wo er zu einem der bedeutendsten Vertreter der modernen hebräischen Literatur avancierte. Zu seinen berühmtesten Werken, die oftmals mit denen Kafkas verglichen werden, gehören: "Und das Krumme wird gerade" (dt. 1918), "Nur ein Gast zur Nacht" (dt. 1964), "Eine einfache Geschichte" (dt. 1967) sowie "Der Treueschwur" (dt. 1974).
Agnon starb 1970 in der Nähe von Tel-Aviv. Sein Porträt ziert den 50-Schekel-Schein.

Zum Übersetzer: Gerold Necker geboren 1961, Studium der Judaistik und katholischen Theologie in Tübingen, Bonn, Köln, Berlin und Jerusalem. Seit 2002 Lehrkraft für besondere Aufgaben (Lehre und Forschung) am Seminar für Judaistik/Jüdische Studien der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Jüdische Mystik sowie das erzählerische Werk des israelischen Schriftstellers Samuel J. Agnon. Weitere Übersetzungen im Jüdischen Verlag von Gerold Necker: S.J. Agnon, Liebe und Trennung. Erzählungen aus dem Hebräischen, Frankfurt a.M. 1996 sowie S.J. Agnon, Das Buch der Taten, Frankfurt a.M. 1995.

AVIVA-Tipp: Die Novelle "In der Mitte ihres Lebens", die bis heute zu den beliebtesten Pflichtlektüren an israelischen Schulen zählt, besticht in erster Linie durch ihre starke assoziative Sprache. So weist die Erzählung der jungen Tirza enge Bezüge zur alttestamentarischen Erzähltradition auf, indem die einzelnen Charaktere der Erzählung biblischen Motiven folgen. Auf diese Weise entspinnt sich ein feingliedriges Netz verschiedener Bedeutungsebenen, die eine besondere erzählerische Kraft freisetzen. Ein akribischer Anmerkungsapparat, der die Bezugnahmen des Autors auf die religiösen Texte des Judentums aufschlüsselt, ermöglicht der Leserin so eine völlig neue Lesart des auf den ersten Blick schnörkellosen, schlichten Prosastücks, dessen ausgeklügeltes System nachhaltig fasziniert. Samuel J. Agnon ist so auf besondere Weise die Wiederbelebung des Hebräischen als moderner Literatursprache gelungen – ein neuhebräischer Klassiker, der sich wie seine Protagonistin Tirza zwischen zwei Welten bewegt: der religiösen Tradition und der säkularen Moderne.

Samuel Joseph Agnon
In der Mitte ihres Lebens

Originaltitel: Bidmi jameha (Schocken Publishing House Ltd., Tel-Aviv 1978)
Aus dem Hebräischen übersetzt, mit einem Nachwort versehen und herausgegeben von Gerold Necker
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, erschienen am 30. Juni 2014
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 123 Seiten.
ISBN 978-3-633-54266-6
19,95 Euro
www.suhrkamp.de


Weitere Infos unter:

www.zeit.de Der Nobelpreisträger Samuel J. Agnon – Leben und Werk

www.zeit.de Der Chagall der Literatur – Zum Tod von Samuel J. Agnon

www.leipziger-buchmesse.de Auf den Spuren des Nobelpreisträgers Samuel J. Agnon – Ausstellung, Leipziger Buchmesse 12. März 2015

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Nelly Sachs - Werke, Band IV

Das Sefer Jezira und Einführung in die lurianische Kabbala




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Beitrag vom 23.02.2015

Lisa Sophie Kämmer