Shlomo Avineri – Herzl - Theodor Herzl und die Gründung des jüdischen Staates. Doron Rabinovici, Natan Sznaider – Herzl Reloaded. Kein Märchen - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 26.02.2016


Shlomo Avineri – Herzl - Theodor Herzl und die Gründung des jüdischen Staates. Doron Rabinovici, Natan Sznaider – Herzl Reloaded. Kein Märchen
Romina Wiegemann

Zwei Neuerscheinungen nähern sich auf unterschiedliche Weise Theodor Herzl und seiner Vision des "Judenstaates". Während Shlomo Avineri in seiner Biographie ein sensibles Portrait eines gegen unzählige Widerstände kämpfenden jungen Mannes zeichnet, treten Doron Rabinovici und Natan Sznaider...




... in eine Debatte über Herzls Ideen und ihre Relevanz für den heutigen Staat Israel.

Herzls Tagebücher bilden die Grundlage Shlomo Avineris Biographie. Dieser Zugang wirft nicht nur ein neues Licht auf Herzls Leben und Leistung, sondern ermöglicht es auch, mit ein paar hartnäckigen Legenden aufzuräumen, die sich um Herzl und seine Vision vom "Judenstaat" ranken. Vor allem aber zeichnet Avineri den Prozess der Bewusstseinsbildung eines aus bürgerlichen Verhältnissen stammenden jungen Mannes nach, dem es gelingt, die Gründung des jüdischen Staates auf die diplomatische Agenda zu setzen. Avineris Hauptinteresse gilt also in erster Linie dem Menschen Theodor Herzl und seiner intellektuellen Entwicklungsgeschichte.

Diese hat ihren Ausgangspunkt nicht, wie weitläufig angenommen, in der Dreyfus-Affäre, die Herzl als Korrespondent der "Neuen Freien Presse" in Frankreich verfolgte. Die Verbesserung der prekären Lebensbedingungen der Jüdinnen und Juden im politisch instabilen Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war ihm schon zu seiner Wiener Zeit als Jura-Student ein Anliegen. Das beweisen insbesondere Aufzeichnungen in Herzls Lektüretagebuch, in denen er sich ausgiebig mit der 1881 erschienenen judenfeindlichen Hetzschrift des einflussreichen Philosophen Eugen Dühring auseinandersetzt. Herzl erkannte, dass die rassistische Komponente des neu aufkeimenden Antisemitismus eine besondere Gefahr in sich barg. Damit war er, der zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 23 Jahre alt war, seiner Zeit voraus, denn auch die Mehrheit der Anhänger ihm politisch nahestehender Lager, SozialistInnen und Liberale, taten die aufkommenden antisemitische Parteien und Bewegungen zu diesem Zeitpunkt noch als unbedeutende Randerscheinungen ab.

Die Wahl des Antisemiten Karl Lueger zum Wiener Bürgermeister im Mai 1895 nahm Herzl als weitere Zuspitzung der "Judennot" im bröckelnden Vielvölkerstaat der Habsburger wahr. Als wäre er voller Vorahnungen, arbeitete er, noch ohne jegliche organisatorische Mittel und Möglichkeiten, fortan unermüdlich an Entwürfen für eine sichere Heimstatt der jüdischen Gemeinschaft. Die Ideen, die er in seinem Tagebuch detailreich niederschrieb, reichten nicht selten ins Phantastische, enthielten aber auch sehr konkrete Elemente.

Die Intensität seines inneren Monologs spiegelt sich in seinen Aufzeichnungen deutlich wider. Je tiefer Herzl in die Materie eindrang, desto klarer wurde ihm, wie revolutionär seine Vision vom "Judenstaat" tatsächlich war. Nicht selten war er überwältigt von der Vielzahl praktischer Fragen, die aufgeworfen wurden, wobei – hier wieder ganz der Realist - das Werben um internationale und finanzkräftige Unterstützung für ihn an erster Stelle stand.

Für die Abfassung seiner programmatischen Schriften konnte er aus einem reichen Repertoire an Wissen, Talenten und Neigungen schöpfen.Als Jurist wusste er um die Wichtigkeit der Schaffung einer institutionellen Vertretung für das jüdische Kollektiv. Als Redakteur hatte er eine präzise Kenntnis politischer und diplomatischer Prozesse erworben. Hinzu kam sein analytischer Scharfsinn, mit dem er auf die gesellschaftliche Entwicklung blickte. Herzl verfügte über eine lebendige Vorstellungskraft und wusste, seinen Worten eine unwiderstehliche Dramatik zu verleihen. Letzteres kam ihm auch beim Verfassen von Briefen an einflussreiche Persönlichkeiten, die er für seine Sache gewinnen wollte, und bei seinen Reden, mit denen er an die Öffentlichkeit trat, zugute.

Diese Fähigkeiten und Charakterzüge wie Willen, Durchhaltevermögen und Energie sowie eine gehörige Portion "Chuzpe" ließen ihn zu der führenden politischen Persönlichkeit werden, die er stets zu sein wünschte. Selbst dieser narzisstische Zug wird durch Tagebucheinträge belegt, auch wenn Herzls Hauptmotiv zweifellos humanistischer Natur war.
Die Entschlossenheit, mit der Herzl den unzähligen Widerständen und Enttäuschungen begegnete, war bemerkenswert. Wiederholt wurde er, der auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft polarisierte, als irrer Phantast abgekanzelt, was ihn aber geradezu zum Weitermachen anstachelte. "Ja, nur das Phantastische ergreift die Menschen", schrieb Herzl zu diesen Erlebnissen kämpferisch in sein Tagebuch. Trotzdem wird in seinen Aufzeichnungen deutlich, wie viel Kraft es ihm abverlangte, sich von wiederkehrenden Zweifeln zu befreien und wie steinig sein Weg i bis zum Ersten Zionistischen Kongress im Jahr 1897 war.

AVIVA-Tipp: Shlomo Avineri ist mit seiner Biographie ein sehr persönliches Portrait gelungen, das die Person Theodor Herzl und seine Leistung würdigt. Trotzdem vermeidet Avineri jegliche Form der Überhöhung. Er stellt Herzl als einen mit vielen Talenten und ausgeprägtem politischem Gespür ausgestatteten Menschen dar, der nicht frei von Schwächen und Zweifeln war. Das macht diese Biographie so glaubwürdig und so lesenswert.

Zum Autor: Shlomo Avineri wurde 1933 im schlesischen Beelitz geboren. 1939 emigrierte er mit seiner Familie ins damalige Palästina. Er studierte Geschichte und Sozialwissenschaften an der Hebräischen Universität in Jerusalem und der London School of Economics. Seit 1964 lehrt er an der Hebräischen Universität von Jerusalem. 1974 wurde er zum Professor für Politische Wissenschaften berufen. Während der ersten Amtszeit von Premierminister Jitzhak Rabin (1974-1977) war Avneri Generaldirektor des israelischen Außenministeriums Er leitete darüber hinaus die israelische Delegation bei der Generalversammlung der UNESCO und war 1979 Mitglied der ägyptisch-israelischen Kommission, die das Kultur- und Wissenschaftsabkommen beider Länder erarbeitete. Von 1999 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2001 war Avneri Direktor des Instituts für Europäische Studien der Hebräischen Universität. Seine Forschung befasst sich überwiegend mit Marx, Hegel, Nationalismus und dem Nahostkonflikt. Shlomo Avineri war Gastprofessor an vielen namhaften Universitäten (u.a. Yale, Cornell, University of California, Northwestern University, Oxford, und Central European University Budapest). Er wurde mehrfach mit akademischen Preisen ausgezeichnet. 1996 erhielt er den Israel Preis, die höchste zivile Auszeichnung des Staates Israel.
(Quelle: Verlagsinformationen und Webseiten der Hebräischen Universität in Jerusalem sowie der Central European University)
Mehr Informationen unter:
www.huji.ac.il



Shlomo Avineri
Herzl: Theodor Herzl und die Gründung des jüdischen Staates

Originaltitel: Theodor Herzl and the Foundation of the Jewish State
Ãœbersetzt aus dem Englischen von Eva-Maria Thimme
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, erschienen am 11.01.2016
361 Seiten, Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-633-54275-8
24,95 Euro
www.suhrkamp.de


Doron Rabinovici, Nathan Sznaider: Herzl Reloaded. Kein Märchen.

Er ist wieder da. Theodor Herzl hat sich eine E-Mail-Adresse eingerichtet und geht zu Jahresende 2014 online. Kein Märchen. Der Herzl Teddy, der Patriarch von Zion, der Alte mit dem Prophetenbart, wie Doron Rabinovici ihn fast liebevoll nennt, schickt ebendiesem eine E-Mail mit historischem und gleichzeitig hochaktuellem Inhalt. Es handelt sich um die bekannte Jerusalem-Passage aus Herzls Roman "Altneuland" von 1902. Rabinovici leitet die obskure E-Mail an seinen Freund Natan Sznaider, Professor für Soziologie in Tel Aviv, weiter. Die beide treten daraufhin in eine rege Korrespondenz über Herzls Ideen und ihre Bedeutung für das heutige Israel, während der alte Visionär selbst unermüdlich weitere Auszüge seiner Schriften durch den modernen Kommunikationskanal jagt und die Diskussion weiter befeuert.

Rabinovici und Sznaider sind sich weitgehend uneins, wenn es um die heutige Bedeutung des Zionismus in Israel geht. Und die wird inhaltlich bis an die Schmerzgrenze debattiert. Was bedeutet der jüdische Charakter des Staates Israel eigentlich wirklich? Ist Israel angesichts des postnationalen Zeitalters ein Anachronismus, wenn auch berechtigt? War Herzls Vision, einen aufgeklärten, modernen Staat an einem Ort zu errichten, der religiös und historisch nicht aufgeladener hätte sein können, etwa ein Paradox? Welche Bedeutung maß Herzl der Diaspora bei und welchen Stellenwert hat sie heute? Das sind die Fragen, die intensiv bearbeitet werden.
Doch nicht nur die beiden Zeitgenossen Rabinovici und Sznaider diskutieren überraschend unverblümt miteinander, auch mit Herzl wird hart ins Gericht gegangen. Sznaider wartet mit der These auf, der Herzlsche Zionismus sei von Beginn an mit einer mystischen Komponente ausgestattet gewesen, was säkulare Machtpolitik in Israel bis heute unmöglich mache. Auch auf andere blinde Flecken wird der E-Mail-Schreiber aus der Vergangenheit von Sznaider gestoßen. So habe Herzl in seinem politischen Entwurf die Möglichkeit eines nationalen Erwachens der arabischen Bevölkerung Palästinas als Reaktion auf den Zionismus gänzlich unberücksichtigt gelassen und sei somit historischen Realitäten gegenüber ignorant gewesen.

Rabinovici betrachtet das Projekt eines säkularen Zionismus nicht als grundlegend gescheitert. In der Lösung des Nahostkonflikts durch die Schaffung eines Palästinenserstaates sieht er die Möglichkeit, die Zäsur, die er im Jahr 1967, dem Beginn der israelischen Besatzung, verortet, zu überwinden. Diese Auffassung handelt ihm glatt den Sznaiderschen Vorwurf ein, sein Plädoyer für eine Zweistaatenlösung wäre Ausdruck ethnisches Denkens, wogegen sich Rabinovici, selbstverständlich heftig zur Wehr setzt...

AVIVA-Tipp: Es ist ein kongeniales Duo, das da in einen Austausch über Herzl, seine Ideen und den Zustand des Staates Israel getreten ist: Der in Israel lebende Wissenschaftler Sznaider, der durch seine scharfsinnige Analysen gleichzeitig beeindruckt und ernüchtert, und der Wiener Schriftsteller Rabinovici, der nicht nur seine politischen Standpunkte überzeugend darzustellen vermag, sondern dessen virtuoses Spiel mit Sprache und Worten dem kompliziertem Thema Leichtigkeit verleiht
Schonungslose Ehrlichkeit prägt die Diskussion, die teilweise so heftig wird, dass manche LeserInnen überrascht sein mögen, dass das gemeinsame Buchprojekt ein gutes Ende gefunden hat. Das kann dem Umstand zu verdanken sein, dass sie frei von undifferenzierter Israelkritik geführt wird, wie sie in Europa so verbreitet ist. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten teilen Rabinovici und Sznaider die Verbundenheit mit Israel, was eine unverkrampfte Debatte ermöglicht.

Zu den Autoren:

Doron Rabinovici
ist Schriftsteller und Historiker. Er wurde 1961 in Tel Aviv geboren und lebt seit 1964 in Wien. Sein Werk umfasst Kurzgeschichten, Romane und wissenschaftliche Beiträge. In Österreich hat er immer wieder prominent Position gegen Rassismus und Antisemitismus bezogen. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jean Améry-Preis für Essayistik (2003) und mit dem Anton Wildgans-Preis (2011). Zuletzt erschien von ihm 2010 der Roman "Andernorts" im Suhrkamp Verlag Gemeinsam mit Matthias Hartmann verwirklichte er 2013/14 am Wiener Burgtheater das Projekt "Die letzten Zeugen", in dem 75 Jahre nach dem Novemberpogrom sieben ZeitzeugInnen und ihre Texte zu Wort kamen. Das Projekt wurde 2014 zum Berliner Theatertreffen eingeladen.
(Quelle: Verlagsinformationen und Website des Autors)
Doron Rabinovici im Netz:
www.rabinovici.at

Natan Sznaider wurde 1954 in Deutschland als Kind aus Polen stammender staatenloser Überlebender der Shoah geboren. Er ging mit 20 Jahren nach Israel und studierte an der Universität von Tel Aviv Soziologie, Psychologie und Geschichte. Sznaider lehrt heute als Professor für Soziologie an der Akademischen Hochschule in Tel Aviv. Im Suhrkamp Verlag erschien 2007 von ihm, zusammen mit Daniel Levy: "Erinnerungen im globalen Zeitalter: Der Holocaust."
(Quelle: Verlagsinformationen)



Doron Rabinovici, Natan Sznaider
Herzl Reloaded. Kein Märchen

Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, erschienen am 11.01.2016
207 Seiten, Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-633-54276-5
19,95 Euro
www.suhrkamp.de

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Beitrag vom 26.02.2016

Romina Wiegemann