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Beitrag vom 29.08.2016
Elena Ferrante - Meine geniale Freundin
Doris Hermanns
Am 27. August war es endlich so weit: Der erste Band der Neapolitanischen Saga von Elena Ferrante erschien auf Deutsch – lange nachdem alle vier Bände in anderen Sprachen bereits weltweit bejubelt wurden.
Auf der Website des Suhrkamp Verlags wurden vorher die Tage, Stunden, Minuten gar Sekunden bis zum Erscheinen dieses Romans abgezählt, der Erscheinungstermin wurde zweimal vorverlegt.
Was aber hat es nun mit diesem Roman auf sich? Meine geniale Freundin ist der erste Band eines Quartetts, in dessen Mittelpunkt zwei Freundinnen stehen, die seit ihrer Schulzeit etwa sechzig Jahre lang befreundet sind. Bereits im Prolog wird der lebenslange Wettstreit der beiden deutlich, nachdem die eine – Lila - spurlos verschwunden ist, was die andere, Elena, so wütend macht, dass sie sich entschließt, ihre Erinnerungen aufzuschreiben: "Mal sehen, wer diesmal das letzte Wort behält".
Und so ist es Elena, die die Geschichte dieser Freundschaft erzählt. Die beiden Mädchen lernen sich in der ersten Klasse der Grundschule kennen. Erst erscheint Elena, genannt Lenù, als die Klügere, aber sie ist auch diejenige, die allen gefallen will. Lila hingegen ist die Unangepasste, die Freche, die sich nicht einschüchtern lässt. Aber die Situation ändert sich unerwartet und schlagartig, als sich auf einmal herausstellt, dass Lila bereits lesen und schreiben kann – weil sie es sich selber beigebracht hat. Jetzt ist sie es, die meist als Beste vorne neben der Lehrerin sitzen darf. Dennoch ist es anschließend Elena, die zur Mittelschule gehen darf, auch für sie keine Selbstverständlichkeit, während Lila in der Schusterwerkstatt ihres Vaters mitarbeiten muss.
Die Freundschaft der beiden wird jedoch erst besiegelt, als beide ihre Puppen "verloren" haben und versuchen, diese zurückzubekommen. Sie steigen die Treppe hinauf und Lila nahm Elenas Hand: "Das änderte alles zwischen uns, für immer." Auch wenn Lila oft als die Mutigere erscheint, so ist es doch oft Elena, die den nächsten Schritt zu gehen wagt. Aber beide unterstützen sich auch immer wieder, sind einander Inspiration und reiben sich aneinander, entfernen sich und kommen sich wieder näher. Die Freundschaft der beiden Mädchen wird von Anfang an in Einzelheiten, anhand vieler verschiedener Situationen beschrieben. Wie besonders Lila für Elena ist, zeigt sich schon daran, dass sie diese als einzige Lila nennt, für alle anderen ist sie Lina oder Raffaella, wie sie eigentlich heißt. Elena erliegt gleich Lilas Faszination, auch wenn sie sich ihr unterlegen fühlt: "Ich beschloss, mir an diesem Mädchen ein Beispiel zu nehmen und sie nie aus den Augen zu verlieren, auch dann nicht, wenn sie ärgerlich werden und mich wegjagen sollte."
Der erste Band beschreibt die Kindheit und frühe Jugend der beiden bis zur Heirat Lilas, als diese erst 15 Jahre alt ist. Es ist eine schonungslose Beschreibung, die detailgenau und bildreich ist. Sie beschönigt nichts, denn wie Elena rückblickend sagt: "Ich sehne mich nicht nach unserer Kindheit zurück, sie war voller Gewalt." Wie Ferrante sehr nüchtern schreibt: "Das Leben war eben so, und damit basta, wir waren gezwungen, es anderen schwerzumachen, bevor sie es uns schwermachten."
Die beiden wachsen in einem armen Stadtteil Neapels in den 1950er Jahre auf, Faschisten, Kommunisten und die Mafia sind Teil des Lebens. Ihre Welt ist erst einmal auf die Familien in ihrer direkten Umgebung beschränkt. Aber langsam erweitert sich ihr Horizont. Dazu gehört, dass die beiden Mädchen nicht nur ihre Puppen loslassen und ihre Freundschaft beginnen, sondern sie gehen zur Schule, versuchen ans Meer zu gelangen, Elena geht auf die Mittelschule – was bedeutet, dass beide auf eigenwillige Weise mehr lernen – und beide machen ihre ersten Erfahrungen mit Jungen. Bildung spielt eine große Rolle für beide, auch wenn Elena zunächst Worte wie Gymnasium oder Universität fremd sind, und sie keine Ahnung vom Bildungssystem hat. Als die Lehrerin ihr nach der Grundschule empfiehlt, weiter zur Schule zu gehen, wundert sich Elena ganz erstaunt: "Was gab es denn noch zu lernen?"
Auch die Beziehungen im Leben der beiden Mädchen werden pragmatisch und hart beschrieben. Es gibt wenige Menschen in ihren Leben, von denen sie Unterstützung erwarten können, Maestro Oliviero, ihre Lehrerin, ist eine davon. Die meisten sind zu sehr mit sich selber beschäftigt, mit den Problemen, die sie selber haben, wie Elenas Mutter, auch wenn ihre Tochter sieht, dass sie nicht glücklich ist, dass die Hausarbeit sie zermürbt und dass das Geld nie reicht. Und so sehr Elena anderen gefallen will, mit ihrer Mutter hat sie ein Problem, "mit ihr lief es nie so, wie es laufen sollte. (…) Sie konnte mich nicht leiden, und ich konnte sie nicht leiden." Immer wieder gibt es unerwartete Wendungen in ihrem Leben, die Personen werden sehr vielschichtig beschrieben. So ist es Elena, die entdeckt, dass Tanzen ihr großen Spaß macht, während Lila es eher theoretisch und mit Perfektionismus angeht.
Der Roman endet mit einem bösartigen Verrat und einem Cliffhanger, der die Wartezeit auf den Folgeband lang werden lässt. Dieser setzt genau an der Stelle ein, an der der erste Band endet: bei der Hochzeit von Lila.
Die Presse überschlägt sich mit Mutmaßungen darüber, wer die Autorin sein könnte. Aber: Warum ist es wichtig dies zu wissen? Die Autorin, die sich von Anfang an dafür entschieden hatte, ihre Werke unter einem Pseudonym zu veröffentlichen, geht davon aus, dass Bücher nur sich selbst brauchen und dass sie sich ihre LeserInnen selbst suchen. Für sie hat dies funktioniert, es besteht also gar kein Grund für sie, aus ihrer Anonymität zu treten. Und wer sich darüber bewusst ist, wie über Autorinnen geschrieben wird - statt über deren Werk geht es oft über Themen wie Aussehen und Familienplanung, anders als bei Autoren und deren Werk - kann diese Entscheidung gut nachvollziehen. Aber nur wenige Autorinnen schaffen es, ohne öffentliche Auftritte so bekannt zu werden. Auch die Übersetzungen der ersten drei Romane von Elena Ferrante sind im Büchermeer untergegangen und nur von wenigen wahrgenommen worden. Zum Glück sollen diese nach dem Erscheinen der weiteren drei Bände der Neapolitanischen Saga neu aufgelegt werden.
AVIVA-Tipp: Zeit nehmen, alles zur Seite legen und einfach nur lesen: ein genialer Roman, eine geniale Saga, eine geniale Autorin.
Zur Autorin: Elena Ferrante ist die große Unbekannte der Gegenwartsliteratur. In Neapel geboren, hat sie sich mit dem Erscheinen ihres Debütromans im Jahre 1992 für die Anonymität entschieden. Meine geniale Freundin ist ein weltweiter Bestseller und der erste Band der gleichnamigen Neapolitanischen Saga. Die übrigen drei Bände – Die Geschichte eines neuen Namens, Die Geschichte der getrennten Wege und Die Geschichte des verlorenen Kindes – werden im Frühjahr und Herbst 2017 im Suhrkamp Verlag veröffentlicht werden. Ab Herbst 2017 sollen auch ihre früheren Romane Lästige Liebe, Tage des Verlassenwerdens und Frau im Dunkeln wieder neu aufgelegt werden.
Mehr Infos unter: Zu Elena Ferrante: www.elenaferrante.de
Zur Übersetzerin: Karin Krieger, geboren 1958 in Berlin, übersetzt vorwiegend aus dem Italienischen und Französischen, darunter Bücher von Claudio Magris, Anna Banti, Armando Massarenti, Margaret Mazzantini, Ugo Riccarelli, Andrea Camilleri, Alessandro Baricco und Giorgio Fontana. Sie war mehrfach Stipendiatin des Deutschen Übersetzerfonds und erhielt 2011 den Hieronymusring.
Elena Ferrante
Meine geniale Freundin
Band 1 der neapolitanischen Saga: Kindheit und frühe Jugend
Originaltitel: L´amica geniale
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
Suhrkamp Verlag, erschienen 27. August 2016
Gebunden mit Umschlag. 422 Seiten
ISBN 978-3-518-42553-4
Euro 22,00
Zum Buch: www.suhrkamp.de