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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 27.10.2016


Katja Lange-Müller - Drehtür
Yvonne de Andrés

Nach einem langen Flug aus Nicaragua fühlt sich der Flughafen Riem in München frostig und aseptisch kalt an. Unsanft wurde Asta Arnold von ihrem Arbeitgeber mit einem one-way Ticket ausgemustert. Sie sitzt fest. Gestrandet schreitet sie ihre Lebenserinnerung ab.




Bei einer Drehtür ist es ganz wichtig die eigene Gehgeschwindigkeit der Tür-Drehung anzupassen. Andernfalls kann es leicht geschehen, dass frau gegen die gläsernen Türflügel stößt, stürzt oder in der Drehtür stecken bleibt. Als Fluchttüren sind die Drehtüren wenig geeignet.

Bei Asta Arnold hat sich so eine Drehtür in ihrem Leben mehr als nur verkantet. Nach 22 Jahren als Krankenschwester bei internationalen Hilfsorganisationen kommt sie in ein komplett verändertes Deutschland zurück. Die DDR gibt es nicht mehr, sie ist untergegangen. Die Welt in der Bundesrepublik Deutschland hat sich auch verändert, außerdem es gibt niemanden, der auf Asta wartet. Sie ist im Flughafen-Terminal gestandet: "Nur wohin ich nun soll oder will, das weiß ich nicht. Kein Geld, kein Zuhause, keine Familie, keine Freunde, keine Perspektive …".

Ihr letzter Arbeitseinsatz in Managua endete desaströs. Die zunehmende Unkonzentriertheit im Beruf war der Grund der Kündigung. Zum 65. Geburtstag wird sie mit einem kalten Händedruck in Rente geschickt. Asta steht vor dem Aus. Sie steckt buchstäblich in der Drehtür fest. Das Berufsleben bedeutete ihr alles und jetzt ist es vorbei: "Zu helfen weckt ein seltsames Verlangen in dir, aber eines, das gestillt werden kann, so betörend, dass du es wieder tun willst und immer wieder." Auch ihr Koffer ist nicht mitgekommen und so raucht sie die im Duty-free-Shop günstiger erworbenen Zigaretten, wartet ab, und hängt episodenhaft ihren Erinnerungen nach.

Auslöser für die zehn unterschiedlich umfangreichen Erzählungen ist das scheinbare Erkennen von Personen oder deren entstellter Silhouette durch die Glasscheibe. Die Erinnerungen an ein bewegtes intensives Leben steigen in ihr auf. Tamara Schröders unermüdlicher Eifer rührt wahrscheinlich von einem Helferinnensyndrom her. Ihr Vorbild war die junge Tamara Bunke, "die Unterikone der Revolution".
Der Besuch von indischen Verleger_innen auf der Buchmesse in Frankfurt, die Zeit an der Seite des Malers Georg Goltz, ein Urlaub in Tunesien mit Kurt, den sie auf einem Kongress europäischer Hilfsorganisationen in Wien kennengelernt hat, und viele andere Ereignisse rauschen durch ihre Erinnerungen. Die Episoden reihen sich aneinander, wirken scheinbar glatt, und doch befindet sich in jeder immer wieder ein Abgrund. Asta Arnold thematisiert in ihren Erinnerungen immer wieder das Thema Helfen und Helfer. Ihre Überlegungen kreisen um die Frage nach der Grenze der Nächstenliebe und der Notwendigkeit zu helfen. Die Stimmung kippt von Euphorie über Ratlosigkeit bis zu schwarzem Humor. "Ich bin frei, frei wie ein Vogel ohne Flügel, ein Blechvogel, aber einer, zu dem es keinen Schlüssel mehr gibt, den niemand mehr aufziehen und über die Dielen hüpfen lassen kann."

Als Asta selber Hilfe benötigt, ist niemand da. Sie hätte Hilfe selbst wohl auch sicher abgelehnt. Einer ihrer letzten Gedanken geht an ihre Schwester, der sie einmal großes Unrecht angetan hat, ohne es je wiedergutzumachen. Asta möchte nicht zurück in ein neues Leben, das ihr fremdgeworden ist. Es ist ein lakonischer Abgang: "Da sind noch neun Päckchen Camel drin, denkt sie, acht volle und eine angerissene, hundertneunundsiebzig Zigaretten. Schade, dass ich die nicht mehr rauchen kann..."

AVIVA-Tipp: Auch in diesem Buch von Katja Lange-Müller geht es um eine gesellschaftliche Außenseiter_in. Protagonistin Asta trägt dabei Züge der Autorin. Es ist eine traurige Introspektion. Der Ton dieser Lebenserinnerung ist lakonisch. Heiterkeit, Humor und auch Bitterkeit stellen sich bei einzelnen Episoden der Rückschau ein. Dabei geht es um Versagen, komische Begebenheiten und auch um Beschäftigung mit der nicht mehr vorhandenen DDR. Lesenswert.

Zur Autorin: Katja Lange-Müller 1951 in Ostberlin geboren, lebt als Schriftstellerin in Berlin und der Schweiz. Ihre Mutter Inge Lange (1927–2013), war eine führende Politikerin in der DDR. Mit 16 Jahren wird sie wegen "unsozialistischen Verhaltens" von der Schule verwiesen. Es folgt eine Ausbildung als Schriftsetzerin. Danach arbeitet sie als Bildredakteurin bei der "Berliner Zeitung", als Requisiteurin beim DDR-Fernsehen, mehrere Jahre als Hilfsschwester auf geschlossenen psychiatrischen Stationen der Berliner Charité und des Krankenhauses für Neurologie und Psychiatrie Berlin-Herzberge.
Ab 1979 studierte sie am Literaturinstitut "Johannes R. Becher" in Leipzig.1982 folgten ein einjähriger Studienaufenthalt in der Mongolei und Arbeit in der "Teppichfabrik Wilhelm Pieck" in Ulan-Bator. 1983 arbeitet sie als Lektorin im Altberliner Verlag. 1984 folgt ihre Ausreise nach West-Berlin.
1986 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis, 1995 den Alfred-Döblin-Preis für ihre Erzählung "Verfrühte Tierliebe", 2002 den Preis des ZDF, des Senders 3sat und der Stadt Mainz. 2008 erhielt sie den Preis der LiteraTour Nord, den Gerty-Spies-Literaturpreis und den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis. 2001 Stadtschreiberin in Rheinsberg gemeinsam mit Jürgen Israel. Im Jahr 2012/2013 war sie Stipendiatin der Villa Massimo, erhielt den Kleist-Preis und war 2013/2014 Stipendiatin der Kulturakademie Tarabaya Istanbul. Im Sommersemester 2016 bekam sie die Gastdozentur für Poetik an der Frankfurter Goethe-Universität.
Sie veröffentlichte bislang die Bücher: "Kasper Hauser – Die Feigheit vorm Freund" (1988), "Verfrühte Tierliebe" (1995), "Die Letzten. Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei" (2000), "Vom Fisch bespuckt. Neue Erzählungen von 37 Autorinnen und Autoren" (Hg. 2001), "Die Enten, die Frauen und die Wahrheit" (2003), "Böse Schafe" (2007).


Katja Lange-Müller
Drehtür

Roman
Hardcover, 216 Seiten
19,00 Euro [D]
Verlag Kiepenheuer & Witsch, erschienen 11. August 2016
ISBN: 978-3-46204934-3
www.kiwi-verlag.de


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Beitrag vom 27.10.2016

Yvonne de Andrés