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Beitrag vom 23.02.2017
Sarah Glidden - Im Schatten des Krieges. Reportagen aus Syrien, dem Irak und der Türkei
Hannah Hanemann
Die Comic-Zeichnerin aus Seattle ("Israel verstehen - in 60 Tagen oder weniger") trifft mit ihrer von der Presse gefeierten Graphic Novel den Puls der Zeit. Reisedokumentation und politisches Engagement vermischen sich in Tausenden von Zeichnungen zu einem eindringlichen Bericht über Krieg, Flucht und Journalismus.
Kurz nach 20.00 Uhr am 22. Februar 2017 tritt Sarah Glidden im gläsernen Projektraum des Ex-Rotaprint Geländes vors Publikum, das trotz regnerischen Berliner Winterwetters zahlreich zur Vorstellung ihres neuen Buches "Im Schatten des Krieges - Reportagen aus Syrien, dem Irak und der Türkei" erschienen ist. Es wurde sowohl von der amerikanischen als auch der europäischen Presse hochgelobt, nicht zuletzt wegen seiner Aktualität nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten.
Nachdem sie kurz durch den Veranstalter angekündigt worden ist, stellt Sarah Glidden sich und ihr Buch in einer 20minütigen Präsentation vor. Angefangen habe sie im Jahr 2007, erzählt sie, inspiriert durch Comiczeichner*innen wie Joe Sacco, Gabrielle Bell oder James Kochalka. Zunächst zeichnete sie nur kurze Cartoons zu Alltagssituationen und entwickelte ihren simplen und minimalistischen, aber prägnanten und farbenfrohen Stil. 2010 veröffentlichte sie ihr erstes Buch, "Israel verstehen - in 60 Tagen oder weniger", das in Deutschland 2011 im Panini Verlag erschienen ist. Es basiert auf einer persönlichen Reise nach Israel auf den Spuren ihrer jüdischen Wurzeln.
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© Hannah Hanemann, AVIVA-Berlin. Sarah Glidden erzählt von ihren Anfängen als Cartoonistin und ihrer Reise nach Israel. |
Obwohl ihr erstes Buch eine Art Reisereportage ist, ist es doch vor allem ein autobiographisches Werk über Identitätssuche und das Erwachsenwerden.
Im Gegensatz dazu ist "Im Schatten des Krieges", wenngleich es ebenfalls auf einer autobiographischen Reise beruht, eine journalistische Dokumentation.
Was ist, kann und soll Journalismus?Die Idee für ihre zweite Graphic Novel kam Sarah Glidden, als sie von den Plänen zweier befreundeter Journalisten erfuhr, für eine Reportage für den "Seattle Globalist" in die Türkei, den Irak und Syrien zu fahren, auf den Spuren der Folgen des Irakkriegs.
"Nachdem Obama George W. Bush als Präsidenten abgelöst hatte, schien sich in den USA niemand mehr für den Irakkrieg zu interessieren", sagt Glidden.
"Die Leute wollten es alle verdrängen und weiter machen als wäre nichts geschehen, als hätten die Konsequenzen nichts mehr mit uns zu tun. Aber wir fühlten uns als Teil einer Generation, die dafür Verantwortung übernehmen muss.So reisten Glidden, die beiden Journalist*innen Sarah und Alex, sowie ein befreundeter Ex-Marine namens Dan 2010 in den Nahen Osten, um sich ein Bild von den dort herrschenden Zuständen zu machen.
Sie trafen auf Kurden, Iraker und Syrer, die von ihnen interviewt wurden und ihre Geschichten erzählten. Unter ihnen Kurden, die die USA als Befreier und Helden feierten, sowie geflüchtete Iraker, die beim Anblick der Amerikaner*innen in Tränen, und wütende Beschuldigungen ausbrachen.
Dabei sorgte vor allem Dans Anwesenheit für Konfliktpotential. Er war 2007 im Irak stationiert gewesen und vertrat als einziger in der Gruppe die Auffassung, dass der Irakkrieg überwiegend positive Konsequenzen gehabt habe und deshalb berechtigt gewesen sei. Die Journalistin Sarah, die ansonsten als eine Frau portraitiert wird, die sehr objektiv und gewissenschaft an ihre Recherchen herangeht, versuchte während der Reise, Dan umzustimmen und seinen erwünschten Sinnenwandel für einen Bericht dokumentarisch festzuhalten. Die Dynamik zwischen Sarah und Dan und Sarahs (zweifelhaftes), durch ihre Freundschaft überschattetes journalistisches Vorgehen, mit dem sie Dan einen emotionalen Ausbruch abzuringen versuchte, machen einen großen Teil des Buches aus.
Denn "Im Schatten des Krieges" ist nicht nur selbst journalistisches Dokument, sondern vor allem eine Reportage über den Journalismus, über seine guten, aber auch seine problematischen Seiten. Als Teil der Gruppe, aber trotzdem immer aus der Perspektive einer Außenstehenden, dokumentierte Glidden die Arbeit ihrer Freund*innen, nahm akribisch jedes Gespräch in hunderten von Stunden Tonmaterial auf, transkribierte es in seitenlange Dokumente und hielt jedes Ereignis, das ihr wichtig erschien, in Skizzen fest. Für die eigentliche Arbeit des Zeichnens benötigte sie dann noch einmal rund fünfeinhalb Jahre, in denen sich die politische Lage vor allem in Syrien drastisch veränderte.
"Du siehst, die Leute hier auf der Straße sind gut drauf"Nach ihrem Vortrag wird Sarah Glidden durch den Journalisten Thomas Hummitzsch interviewt. Sie sprechen über Gliddens Auffassung zum Journalismus, ihre Beziehung zu Sarah und Dan, sowie die Aktualität ihres Buchs in den USA des Jahres 2017. Donald Trump kreiere eine Atmosphäre des Misstrauens gegenüber den Medien, sagt Glidden dazu. Aber in erster Linie gehe es im Journalismus um eine möglichst objektive Vermittlung von Wahrheit, um das Sammeln von Hintergrundinformationen und Fakten, zu denen die Bürger*innen sonst keinen Zugang hätten. Das habe sie versucht, in ihrem Buch zu verdeutlichen und selbst zu erfüllen.
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© Hannah Hanemann, AVIVA-Berlin. Sarah Glidden und Thomas Hummitzsch im Gespräch. |
Im Anschluss an das Interview dürfen Fragen gestellt werden. Jemand möchte wissen, ob sie und ihre Freund*innen geahnt hätten, dass in Syrien nur wenige Monate nach ihrer Reise ein Krieg ausbrechen würde. Sarah Glidden verneint das. In Syrien habe niemand mit ihnen über Politik gesprochen. Besonders Damaskus sei ihnen damals als sicherer und friedlicher Ort erschienen. Die Nachrichten von den Unruhen hätten sie völlig unerwartet getroffen. Umso trauriger und prophetischer erscheint es, wenn Dan im Comic während ihres Aufenthalts in Damaskus mit den Worten zitiert wird:
"Manchmal muss Gewalt mit Gewalt beendet werden. (...) Du siehst die Leute hier auf der Straße, sie sind gut drauf, aber ich wette, es gäbe etwas, wofür alle sich `ne Knarre schnappen und einander umlegen würden."Es ist Sarah Glidden anzumerken, wieviel Herzblut und tiefe Überzeugung sie in die Arbeit an ihrer Graphic Novel gesteckt hat. Sie reagiert emotional auf die Fragen, gibt ehrliche Antworten und bedankt sich am Ende herzlich bei ihrem Publikum. Ihr Auftritt ist ebenso authentisch wie ihr Buch, mit dem sie es sich zur Aufgabe gemacht hat, nicht nur die Verantwortung des Westens für die Situation im Nahen Osten herauszustellen, sondern auch auf die Bedeutung und Notwendigkeit von journalistischer Berichterstattung hinzuweisen.
AVIVA-Tipp: Auf fast dreihundert Seiten zeichnet Sarah Glidden in "Die Schatten des Krieges - Reportagen aus Syrien, dem Irak und der Türkei" ein Bild des Nahes Ostens vor der Flüchtlingskrise, das uns diese verständlicher macht. Zugleich dokumentiert sie aus erster Hand journalistische Vorgehensweisen, fragt nach Aufgaben und Zielen des Journalismus und liefert dabei selbst eine bewegende und informative Reportage ab!
Zur Autorin: Sarah Glidden wurde 1980 in Boston geboren. Sie studierte Malerei an der Boston University und gewann 2008 den Ignatz-Award in der Kategorie "Vielversprechendes neues Talent" für ihre selbstveröffentlichte Mini-Comic Reihe über ihre Israelreise 2007. Ihr erstes Buch "Israel verstehen - in 60 Tagen oder weniger" erschien 2011 im Panini Verlag und wurde von der deutschen Presse hochgelobt. Ihr zweites Buch "Im Schatten des Krieges" erschien im November 2016 im Reprodukt Verlag. Sarah Glidden lebt heute in Seattle.
Mehr Infos: www.sarahglidden.comwww.facebook.com/sarahgliddencomicsLesungstermine sind online unter: sarahglidden.com/events Einen Filmbeitrag zu Sarah Glidden finden Sie in der ARD Mediathek unter:www.daserste.deSarah Glidden
Im Schatten des Krieges. Reportagen aus Syrien, dem Irak und der TürkeiOriginaltitel: Rolling Blackouts
Aus dem Englischen von Ulrich Pröfrock
304 Seiten, Seiten, farbig, 16,5 x 22,5 cm, Klappenbroschur
Reprodukt Verlag, erschienen November 2016
EUR 29,00
ISBN 978-3-95640-101-5
www.reprodukt.comWeiterlesen auf AVIVA-Berlin:Rina Jost - Der Hase auf dem Rücken eines Elefanten. Meine Reise von Moskau bis ShanghaiDie Schweizer Illustratorin und Verlagsleiterin hält ihre Eindrücke und Erfahrungen einer dreimonatigen Reise entlang der transsibirischen und transmongolischen Eisenbahn in Illustrationen und Aquarellzeichnungen fest und setzt sich dabei Stück für Stück mit den üblichen Klischeebildern auseinander. (2016)
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