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AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 - Beitrag vom 06.06.2017


Marie Rotkopf - Antiromantisches Manifest
Ahima Beerlage

Harmoniesucht ist sicher kein Problem der Künstlerin und Kulturkritikerin. Angriffslustig nimmt sie sich der selbstverliebten Eigendefinitionen der Menschen in Europa, insbesondere in Deutschland, und den USA an. Ob Postfeministinnen oder Patriarchen, Linke oder Luther,…




...die in Paris geborene Autorin lässt keine romantische Selbsttäuschung zu.

Marie Rotkopf fordert harsch heraus. In einer wilden Mischung aus Artikeln, Gedichten, Tagebuchaufzeichnungen und Notizen klopft sie den Zuckerguss von europäischen und insbesondere deutschen romantischen Mythen. Für Illusionen ist schon am Anfang kein Platz mehr. "Jede Perspektive kann heterogen sein, es gibt nur eine einzige Realität und sie ist aus zwei Elementen zusammengesetzt: Gewalt und Krieg und deren Machtverhältnis. Romantisierung schließt die Pyramide. Darüber schwebend, unausweichlich, betrachtet uns Romantik wie das amerikanische Auge Gottes, des protestantischen Christus. Das dreckige Dreieck, das unseren Sadomasochismus verdeckt. Die Romantisierung hält uns davon ab, die Heuchelei zu erblicken."

Die Freiheit der "Fremdheit"

Ausgehend von der deutschen Romantik folgt sie der Spur bis in die moderne Selbsttäuschung, die den Hass zu verschleiern sucht, den die wenigen Superreichen dem Rest der arbeitenden Weltbevölkerung entgegen bringen und der von der desillusionierten kapitalgesteuerten politischen Elite mit einer nebeligen Rhetorik verschleiert wird, während hinter den Kulissen Entwicklungshilfe privatisiert und gigantische Waffendeals eingefädelt werden. Der Ausweg aus diesen falschen Allianzen liegt darin, das Gefühl der Fremdheit zum Lebensgefühl zu erklären, da sämtliche romantischen Bilder in Abhängigkeiten und Selbstbeschränkungen führen, denn "(r)omantisch ist, in Wirklichkeit: der ursprünglichen Frage auszuweichen." Romantik wird dabei verstanden als die Sehnsucht nach Ordnung und klaren Klassen, wie sie im durch das Christentum seit dem Mittelalter legitimiert wurden. Die Sehnsucht, den komplexen Zusammenhängen und historischen Schuldgeflechten durch einfache Wahrheiten entkommen zu können, befeuert diese Neo-Romantik.

Marie Rotkopf erlaubt diesen Eskapismus nicht. "Wir alle sollten seit 1870 wissen, dass es keine Freiheit ohne soziale Gleichheit gibt, auch nicht in Deutschland, auch nicht in Versailles." Doch es geht ihr nicht nur um die individuelle Selbsttäuschung. Europa, insbesondere Deutschland, und die USA stellen sich immer wieder als Friedensengel dar. Dabei sind sie im Interesse ihrer Kapitalintmaximierung die größten Kriegstreiber. Laut Marie Rotkopf schütze nur "Fremdheit" gegen romantische Lügen. "Keine Zugehörigkeit zu wollen, bedeutet nicht, nicht zusammen sein zu wollen. Im Gegenteil. Wir wollen uns vermischen und nicht in einer rassistischen ständischen digitalen Welt leben. Die Utopie und die Dystopie sind romantisch. Wir verlangen die Verbundenheit mit dem Realen."

Manifest gegen Femen und falsche Freunde

Ihre Forderungen formuliert sie in ihrem "Antiromantischen Manifest Teil I".
Vehement wendet sie sich gegen die Aktionen von Pussy Riot und den Femen. Mit ihren religiösen und folkloristisch-nationalistischen Tendenzen setzen sie sich, so Rotkopf, selbst ins Aus. "Wir erkennen die Verbindung zwischen Pater-Nationalismus und Romantik." Aber auch die, die sich der Masse als HoffnungsträgerInnen anbieten, werden von ihr entlarvt. So hat laut Rotkopf Friedensnobelpreisträger Obama lediglich "die Atommacht durch die moderne Drohnenmacht ersetzt." Sie fordert dazu auf, alle "Instrumentalisierungen aufzukündigen." Sie appelliert besonders an die Frauen, die Gefolgschaft aufzukündigen und die Ideologie von "Kinder Küche Kirche" hinter sich zu lassen, um selbst kreativ zu werden.

Im "Teil II" des Manifestes erklärt sie Deutschland zum "frauenfeindlichsten und antifeministischsten Land Europas." Ihre These: "Der Schoß aus dem die Romantik, die wiederauferstandene Totale Demokratie kroch, inmitten des korrektesten und unterwürfigsten Volkes der Welt, ist fruchtbar noch." Damit zieht sie rhetorisch die Parallele zum latenten und offenen Faschismus in der deutschen Gesellschaft. In dem unbändigen Wunsch, die Verbrechen der Vergangenheit vergessen zu machen und sich die Erlaubnis zu erstreiten, wieder einen deutschen Nationalstolz ohne Beigeschmack zu gewinnen, entlarvt sie die neue deutsche Innerlichkeit als Relikt des Biedermeiers, das auf Kosten der Frauen geht. Auffällig ist dabei, dass sie das Manifest in der Wir-Form verfasst hat, als stünde bereits eine Bewegung der "Fremden" hinter ihr, während sie die anderen Texte mit unterschiedlichen Identitäten in der Ich-Form wiedergibt. Mal ist sie behindert, mal eine bisexuelle Frau und dann wieder ein schwuler Mann. Mal beschreibt sie Kindheitserlebnisse, mal gierigen illusionslosen Sex. Sie zelebriert in ihren Texten eine Art subjektiver "Fremdheit".

Harte Hiebe

Doch je weiter die Lektüre fortschreitet, desto gröber werden die Hiebe. In Tagebuchnotizen beschreibt sie ihren Ekel über den Kunstkitsch in Worpswede, der die aktive Beteiligung der KünstlerInnen am Faschismus auszuradieren sucht. "Man lästert nicht über die Leute, auch nicht mit Beweisen. Man verdrängt oder relativiert. Man benennt nicht." Sie entlarvt die lähmende Wirkung des Protestantismus in Deutschland. "Ich bin verloren in dieser protestantischen Wüste. Ich habe mich verlaufen in diesem lauwarmen Gefilde." Die Tendenzen, alle Schuld und alle Aufarbeitung zu begraben wirft sie aber auch der gesamten Kunstszene vor. "Dieses ´gegen´ mögen viele nicht in der Kunstszene. Ich habe es satt, diese Konsensästhetik." Das Christentum in Deutschland ist für sie "taube Gewalt". Für sie undenkbar, zahlen die Menschen über den Staat Geld an die Kirchen. Luther ist nach ihrer Logik das Bindeglied zwischen "moderner Theologie (Deismus) und Deutschtum". Der Reformator "war eine absolute Figur der (noch-nicht existierenden) Spätromantik, er war "fasziniert von Rom, neidisch gegen die Juden, aber nicht gegen das Geld, gegen das Außen, gegen die wilden Hunde und die Bauern. Immer auf der Seite der Fürsten." Dieser Geist Luthers prägt die Moralvorstellungen der Deutschen bis heute, so Rotkopf. Nur so lässt sich auch die Psychopathologisierung des Islam in Deutschland erklären. Während alle Religionen in ihrem Kern Gewalt bedeuten, ist die taube Gewalt des Protestantismus subtiler, aber nicht weniger gewalttätig. Er wurde in die USA exportiert, wo er eigene Blüten treibt. Während Teile des Islam die offene Konfrontation mit Andersgläubigen suchen, frisst sich die Moral des Protestantismus durch alle Schichten – stumm, subtil und unterdrückerisch. Für Rotkopf sind die Deutschen damit "gefährlicher als die Islamisten."

Subjektives Unwohlsein

Die weiteren Tiraden gegen "die Deutschen" und "Deutschland" zu lesen, fiel mir streckenweise schwer. Noch habe ich den geringsten Drang zur Parole "Germany first". Ich finde immer wieder Kritik in diesem Buch, die ich erhellend finde, in der ich den Perspektivwechsel, den Rollentausch nutzen kann, Vergangenheit und das Bild von außen auf Deutschland zur selbstkritischen Betrachtung nutzen kann. Doch mir widerstrebt es massiv, in pauschalen Gruppen zu denken. Damit wird für mich auch der Eingang, der Appell zur Einzelwahrnehmung, der Umarmung des "Fremdseins", ad absurdum geführt.

AVIVA Tipp: Obwohl das Buch durch viele Pauschalisierungen und wüste Beschimpfungen zwischenzeitlich ein wahres Ärgernis ist, lohnt sich der Perspektivwechsel. In einer Zeit, in der die Kritikfähigkeit zwischen windelweich pragmatischen und ideologiefreien Politphrasen und von Fakenews geprägten Hater-Kommentaren aufgerieben wird, ist diese Sammlung streitbarer Schriften ein guter Diskussionsansatz. Dabei ist die Autorin auf eine spiegelverkehrte Weise gerecht. Alle Gruppen bekommen ihr Fett weg. Schon während der Lektüre beginne ich in mir ein lautstarkes Streitgespräch zu ihren Thesen. Ob als Eulenspiegelin oder ernst gemeint – der Spiegel, den sie den Leserinnen – insbesondere den Deutschen- vorhält, ist nicht leicht zu ertragen. Kein Buch zum Umarmen, sondern eine unbequeme, aber wichtige Lektüre.

Zur Autorin: Marie Rotkopf, geboren 1975 in Paris, ist Autorin, Künstlerin und Kulturkritikerin. 1990/91 Internatsbesuch in Westdeutschland, Studium der Kunstsoziologie an der Sorbonne, lebt in Hamburg. Sie war Leiterin der Kommunikation des ersten zeitgenössischen Kunstmuseums in der Pariser Banlieue. 2007 Gründung der deutsch-französischen KünstlerInnengruppe Internationale Surplace mit Daniel Megerle. Beiträge in und für diverse Kunstzeitschriften, Ausstellungen und Performances. (Quelle: Edition Nautilus)

Marie Rotkopf
Antiromantisches Manifest
Eine poetische Lösung

Edition Nautilus, erschienen März 2017
Originalveröffentlichung
Broschur, 144 Seiten
Euro 14.90
ISBN 978-3-96054-044-1
www.edition-nautilus.de





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