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Beitrag vom 01.08.2017
Margaret Atwood - Das Herz kommt zuletzt
Doris Hermanns
Es klingt nahezu idyllisch: Alle BewohnerInnen einer Stadt bekommen ein wunderbares Haus, eine angenehme Arbeit und ihnen wird ein sorgenfreies Leben garantiert – aber es handelt sich um einen Roman von Margaret Atwood.
Die kanadische Autorin Margaret Atwood ist für ihre Dystopien bekannt, die in einer nahen Zukunft spielen, und wechselnde Schwerpunkte haben. Derzeit erhält vor allem ihr gerade zum zweiten Mal verfilmte Roman Der Report der Magd viel Aufmerksamkeit, ein erschreckendes Szenario, in dem religiöse Fanatiker Frauen total entmündigen und auf ihre Fortpflanzung reduzieren. Zuletzt schrieb sie die Zukunfts-Trilogie Oryx und Crake, Das Jahr der Flut und Die Geschichte von Zeb. Nach einem Erzählungsband ist jetzt ihr neuer Roman Das Herz kommt zuletzt erschienen. Wo sich ihre Trilogie in einer veränderten Natur abspielte, entwirft Atwood hierin eine städtische Zukunftsvision.
Im Mittelpunkt stehen Charmaine und Stan, ein junges Paar, deren Leben ihnen nach ihrer Hochzeit vielversprechend aussahen. Beide hatten gute Jobs und sie hatten sich gerade ein kleines Haus gekauft, als sie beide durch die Inflation über Nacht arbeitslos wurden, ihr Haus verloren und im Auto leben mussten. Um sie herum plündernde Banden, Menschen, die hungern, stehlen und im Abfall wühlen. Da kommt ihnen das Angebot, an einem sozialen Projekt teilzunehmen, gerade recht. Sie können in einer streng abgeschiedenen Stadt leben, die sie allerdings nicht mehr verlassen dürfen. Abwechselnd leben sie einen Monat gut versorgt in Consilience und einen Monat im Gefängnis Positron. Und das Projekt scheint zu funktionieren: Es gibt sichere Straßen, keine Obdachlosigkeit und Arbeit für alle.
Und alles in Consilience ist retro: "Die Vergangenheit ist so viel sicherer, weil alles schon mal passiert ist. Es kann nicht mehr verändert werden, insofern gibt es irgendwie auch nichts zu befürchten." Vor allem die Aussicht auf einen sicheren Arbeitsplatz für alle, ist was dieses Projekt so besonders macht, dass die Regierung immer mehr Städte dieser Art erwägt.
Es gibt zwei Arten von Leben und so gibt es immer Abwechslung für die Menschen, die dort leben, fast ist es wie Urlaub und alle scheinen glücklich, alles Positive wird überbetont. Aber ein idyllischer Roman ist von Atwood natürlich nicht zu erwarten.
Die Situation beginnt sich zu verändern, als Charmaine eine Affäre mit Max beginnt, dem Mann, der mit seiner Frau während der Gefängniszeit von Charmaine und Stan in deren Haus lebt (und umgekehrt). Es sind nur wenige Stunden, in denen sie sich während des Schichtwechsels sehen können. Auch Stan trifft die Frau des anderen Paares, was alles nicht so zufällig ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Ihm waren bereits Zweifel an dem Projekt gekommen und er fragt sich, was hinter dieser ganzen Selbstbeweihräucherung steckt. Er vermutet, dass hinter diesem Projekt Leute stecken, die ein Vermögen daran verdienen. Wie Recht er damit haben soll und wem er überhaupt vertrauen kann, wird ihm erst sehr langsam deutlich.
Letztendlich stellt sich die Frage, ob Utopien wie diese überhaupt gut gehen können oder ob sie nicht immer in Diktaturen ausarten. Und es geht hierbei um Probleme, die es heute bereits heutzutage gibt: Überwachung, Misshandlungen in Gefängnissen, Organverkäufe, Neurochirurgie, Prostitution, Korruption und Gier.
Aber bei all der Schwere ihrer Themen gelingt es Atwood diese mit einer gewissen Leichtigkeit und vor allem mit viel Humor zu beschreiben. So wird hier, wie auch in ihrer Shakespeare-Bearbeitung von Der Sturm, Technik als die neue Magie beschrieben, wobei es in diesem Roman Anleihen von Ein Sommernachtstraum gibt. Aber es gibt auch Elvis- und Marilyn-Figuren, sowie blaue Teddybären, die eine wichtige Rolle spielen. Dadurch kann über ein zwei Längen des Romans durchaus weggelesen werden.
AVIVA-Tipp: Atwood macht in diesem Roman – in Anlehnung an Shakespeare – deutlich, dass nicht alles ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Es ist ein Roman, der aufzeigt, wie durchlässig die Grenzen zwischen einer Utopie und einer Diktatur sein können. Dringende Leseempfehlung.
Zur Autorin: Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit., veröffentlichte bisher über 40 Bücher, darunter "Der Report der Magd", das Kultbuch einer ganzen Generation. Daneben hat die mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnete Schriftstellerin, unter anderem mit dem renommierten Man Booker Prize und dem Nelly-Sachs-Preis, auch als Cartoonistin, Illustratorin, Librettistin, Dramatikerin und Puppenspielerin gearbeitet. Weitere Auszeichnungen (2017): Ivan Sandrof Award for Lifetime Achievement, St. Louis Literary Award, Carl Sandburg Literary Award, Peace Prize, Franz Kafka International Literary Prize, und PEN Center USA Lifetime Achievement Award. Ihr Werk ist inspiriert von Märchen, Mythen, Umwelt- und Zukunftsfragen. Margaret Atwood lebt in Toronto.
(Quelle: Verlagsinformation)
Mehr zu Margaret Atwood auf ihrer Website unter:
www.margaretatwood.ca
Zur Übersetzerin: Monika Baark , geboren 1968 in Tel Aviv, aufgewachsen in Toronto, Moskau, Bonn und Antwerpen. Sie lebt seit 1998 als freie Übersetzerin für englischsprachige Literatur und Kinderbücher in Berlin. Bis 2013 veröffentlichte sie unter dem Namen Monika Schmalz.
Margaret Atwood
Das Herz kommt zuletzt. Roman
Originaltitel: The Heart Goes Last
Aus dem Englischen von Monika Baark
Piper Verlag, erschienen 3.4.2017
Gebunden mit Schutzumschlag. 393 Seiten
ISBN 978-3-8270-1335-4
Euro 22,00
Zum Buch:
www.piper.de
Die Biografie von Margaret Atwood auf FemBio:
www.fembio.org
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Margaret Atwood – Hexensaat
Die mehrfach international ausgezeichnete kanadische Autorin Margaret Atwood ("Der Report der Magd", "Die Geschichte von Zeb", "Moralische Unordnung", "Das Jahr der Flut") hat in ihrer Bearbeitung des Shakespeare Stücks "Der Sturm" die Handlung von einer Insel auf eine Art gesellschaftliche Insel verlegt: ein Gefängnis. (2017)
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