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Beitrag vom 25.07.2017
Margaret Atwood - Hexensaat
Doris Hermanns
Die mehrfach international ausgezeichnete kanadische Autorin Margaret Atwood ("Der Report der Magd", "Die Geschichte von Zeb", "Moralische Unordnung", "Das Jahr der Flut") hat in ihrer Bearbeitung des Shakespeare Stücks "Der Sturm" die Handlung von einer Insel auf eine Art gesellschaftliche Insel verlegt: ein Gefängnis.
Im Hogarth Shakespeare Projekt zu Ehren seines 400. Todestages im vorigen Jahr ist jetzt der vierte Band erschienen. Die Autorinnen und Autoren konnten sich selber ein Stück aussuchen und für Margaret Atwood war die Entscheidung klar: Der Sturm, da das Stück, wie sie im September 2016 gegenüber dem the Guardian sagte, eine Menge unbeantworteter Fragen als auch einige sehr komplexe Charaktere beinhalte. Die Herausforderung, diese Fragen zu beantworten und die Verwirrungen zu entknoten, war für sie Teil der Anziehung des Stückes.
Aber worum geht es in dem Roman und in dem Stück? Es ist an sich ein Theaterstück in einem Theaterstück in einem Roman. Felix, die Hauptperson des Romans, um den sich alles dreht, ist der Direktor eines berühmten Shakespeare Festivals. Während der Vorbereitung zu einer Aufführung von Der Sturm wird er plötzlich und unerwartet durch eine Intrige seines engsten Mitarbeiters entlassen und ersetzt. Dabei war er davon ausgegangen, dass diese Inszenierung das Beste sein würde, was er je geschaffen hatte. Er war ganz besessen davon, weil ihn die Arbeit von den erst kürzlichen Toden seiner Frau und seiner Tochter ablenkte. Sein Traum war es, dass seine Tochter dank der von ihm geschaffenen Zauberblase wieder zu neuem Leben erweckt würde.
Zwölf Jahre lang zieht sich Felix zurück und sinnt auf Rache. Seine Tochter Miranda lebt wie ein Geist bei ihm, für ihn ist sie real und er sieht sie älter werden. Wie in Shakespeares Stück, in dem zufällig ein Schiff mit den Beteiligten an der Insel vorbeikommt, wohin es den Zauberer Prospero verschlagen hat, was ihm die Gelegenheit zu seiner Racheaktion bietet, so ergibt sich auch für Felix eine Möglichkeit durch einen Zufall. Seit kurzer Zeit arbeitet er unter einem falschen Namen in einem Projekt einer Justizvollzugsanstalt, wo er mit Insassen jährlich ein Theaterstück von Shakespeare einübt. Als er nun hört, dass seine alten Widersacher, die inzwischen Minister geworden sind, zu einem Besuch in die Anstalt kommen, sich ein Stück anschauen und danach das Programm streichen wollen, ist für ihn die Zeit der Rache gekommen: "Er hat die Lage doch unter Kontrolle, oder nicht? Die richtigen Worte in der richtigen Reihenfolge, das ist seine wahre Absicherung."
Er beginnt, den Sturm - denn kein anderes Stück kommt für ihn in dieser Situation in Frage - mit den Insassen einzuüben. Detailliert wird beschrieben, wer sich für welche Rolle eignet und wie sie ausgefüllt werden soll. Und wie soll mit der einzigen Frauenrolle verfahren werden? Keiner der Männer will eine Frau spielen, sie würden sonst an "Status" einbüßen und zur Zielscheibe von Spott werden. Für diese Rolle arrangiert Felix eine Frau von außen, die er noch von früher vom Theater her kennt, und die seine Pläne unterstützt.
Auch gegen die Rolle des Luftgeistes Ariel wehren sich die Männer zuerst, da sie ihn als weiblich wahrnehmen (nicht ganz zufällig wurde diese Rolle u.a. im Jli 2017 im Theater O-Ton in Berlin auch von einer Frau gespielt, ganz großartig von Gayane Hakobyan), bis sie aufgefordert werden, sich näher mit dieser Figur zu beschäftigen und zu dem Schluss kommen, dass er derjenige für die Spezialeffekte ist – eine Rolle, die ihnen eindeutig mehr zusagt.
Und die Spezialeffekte sind in diesem Stück so wichtig, wie es die Magie im Original war. Erst langsam wird deutlich, wie sich die Rache gestalten soll, die sich Felix ausgedacht hat, wie er sie mithilfe der am Theaterstück Beteiligten umsetzen kann, ohne dass es von der Gefängnisdirektion bemerkt wird. Und die Folgen sind erstaunlich und haben viel von einem Happy End. Atwood lässt die SpielerInnen weiterspinnen: Wie würde es mit ihren Figuren weitergehen? Wunderbarerweise lässt sie hierbei verschiedene Ideen der unterschiedlichen SpielerInnen nebeneinander stehen, denn die Vorstellungen der einen müssen die Vorstellungen der anderen nicht ausschließen.
AVIVA-Tipp: Eine sehr gelungene Umsetzung eines alten Stoffes in die heutige Zeit. Es ist dem Roman anzumerken, dass es Atwood großes Vergnügen bereitet hat, sich mit diesem Theaterstück und mit Theater überhaupt zu beschäftigen.
Zur Autorin: Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit., veröffentlichte bisher über 40 Bücher, darunter "Der Report der Magd", das Kultbuch einer ganzen Generation. Daneben hat die mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnete Schriftstellerin, unter anderem mit dem renommierten Man Booker Prize und dem Nelly-Sachs-Preis, auch als Cartoonistin, Illustratorin, Librettistin, Dramatikerin und Puppenspielerin gearbeitet. Weitere Auszeichnungen (2017): Ivan Sandrof Award for Lifetime Achievement, St. Louis Literary Award, Carl Sandburg Literary Award, Peace Prize, Franz Kafka International Literary Prize, und PEN Center USA Lifetime Achievement Award. Ihr Werk ist inspiriert von Märchen, Mythen, Umwelt- und Zukunftsfragen. Margaret Atwood lebt in Toronto.
(Quelle: Verlagsinformation)
Mehr zu Margaret Atwood auf ihrer Website unter:
www.margaretatwood.ca
Zur Übersetzerin: Brigitte Heinrich, geboren 1957 am Bodensee, lebt nach Verlagstätigkeit in etlichen Städten und Häusern als Übersetzerin, Herausgeberin und Lektorin in Frankfurt am Main.
Margaret Atwood
Hexensaat
Originaltitel: Hag-Seed: The Tempest Revisited
Aus dem Englischen von Brigitte Heinrich
Roman
KNAUS Verlag, erschienen 17.04.2017
Gebunden mit Schutzumschlag. 320 Seiten
ISBN 978-3-8135-06754-4
Euro 19,99
Zum Buch:
www.randomhouse.de
Mehr zum Shakespeare Hogarth Project:
www.randomhouse.de
Die Biografie von Margaret Atwood auf FemBio:
www.fembio.org
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