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Beitrag vom 28.05.2019
Svenja Gräfen - Freiraum
Saskia Balser
In ihrem zweiten Roman thematisiert die Poetry-Slammerin und feministische Aktivistin Svenja Gräfen ("Das Rauschen in unseren Köpfen") den Ausbruch eines jungen Paars aus dem Großstadtleben, hinein in ein alternatives Wohnprojekt, das seine ganz eigenen Tücken hat.
Vela und Maren, beide Ende zwanzig, wünschen sich eine Veränderung. Nachdem sie ein paar Jahre erst in WGs und dann in einer gemeinsamen Wohnung gelebt haben, die leider immer teurer wird, sind sie auf der Suche nach anderen Optionen.
Denn sie wollen nicht nur zu zweit bleiben, sie wollen zusammen ein Kind bekommen.
In genau dieser prekären Phase, in der sie gerade das Studium beendet haben, sich mit Nebenjobs über Wasser halten und noch nicht wissen, wie es für sie weitergeht, erreicht sie eine Nachricht von Marens Schwester Jo: In dem Hausprojekt am Rande der Stadt, in dem sie lebt, ist überraschend etwas frei geworden.
"Freiraum" hat zwei Erzählstränge, die sich einander im Laufe der Lektüre annähern. Beide beginnen mit einem Kennenlernen: Auf der einen Seite das Kennenlernen des Hausprojekts und auf der anderen, retrospektiv erzählt, das von Vela und Maren. Es ist eine besondere Struktur, die durch die Zeitsprünge Abwechslung und immer wieder Distanz schafft und dennoch Nähe generiert, weil die Leser*innen Stück für Stück mehr von Vela und Maren erfahren.
"Das Haus steht auf einem Hügel. Von der Straße aus ist es nicht gleich zu sehen. Es ist verdeckt von Bäumen und Sträuchern. Davor eine überwucherte niedrige Mauer aus Stein und ein Tor, das quietscht beim Öffnen." Als Vela und Maren das Haus betreten, werden sie bereits freudig von seinen Bewohner*innen erwartet. Das sind Jo, Marens Schwester, mit Freund Karsten und Kind Eli. Außerdem Elli, Darek, Nat und Theo, der den Kopf des Projekts bildet. "Er sagt: Also die Idee hier ist, tatsächlich eine Alternative zu schaffen. Freiraum. Einen Ort, an dem es um mehr geht als um so ein Nebeneinander. Das heißt sich umeinander zu kümmern, sich zu unterstützen. Und in erster Linie auch ein Ort, an dem man überhaupt wohnen kann."
Die jungen Frauen sind begeistert von dem Konzept, sagen schon am nächsten Morgen zu und ziehen wenig später um. Im Hausprojekt erleben sie den Zusammenhalt der Gruppe und die Vorteile des Lebens außerhalb der Großstadt:
"Vela, im Garten, vorm Haus. Sie wohnt hier. Ist das zu fassen? Sie wohnt hier, tatsächlich, mit Maren. Sie atmet tief ein: Das ist Landluft."
Nachdem die anfängliche Euphorie dem unaufhaltsam monotoner werdenden Alltag weicht, entfacht das, was zunächst wie ein wundervolles, buntes Miteinander wirkte, in Vela Zweifel. Sie bemerkt – von der Autorin sehr präzise und einfühlsam geschildert – dass zwischen den Bewohner*innen und insbesondere um Theo, dem eigentlichen Besitzer des Hauses, einige Spannungen herrschen. Maren dagegen, die voll und ganz im neuen Wohnen aufgeht, hat für Velas Beobachtungen und Skepsis kein Verständnis. Die Beziehung der beiden wird auf die Probe gestellt, wenn beide für sich Antworten suchen auf die große Frage: Wie will ich leben?
Die Geschichte von Vela und Maren wird von Svenja Gräfen so stimmungsvoll und detailreich erzählt, dass es Leser*innen mitunter scheint, als säßen sie mit all den scharf gezeichneten Figuren zusammen am Küchentisch. "Gesichter, die strahlen und kauen, Kiefer, die sich bewegen. Die Gesichter, die Hände, die Münder lassen sich zufrieden von Theo Getränke servieren. Besteck schabt auf Tellern, auf Porzellan, und Flaschen und Gläser werden gegeneinandergeschlagen, überall wird gerufen, sich etwas gewünscht: Guten Appetit, Prost, lasst es euch schmecken!"
AVIVA-Tipp: Mit ihrer poetischen Sprache und bildhaften Beschreibungen entwirft Svenja Gräfen ein authentisches Portrait zwei junger Frauen, die ihren Platz im Leben finden und gemeinsam die Hürden des Erwachsenenlebens überwinden wollen. Auf diese Weise verleiht sie den komplexen Gefühlen und Gedanken ihrer Protagonistinnen den titelgebenden Freiraum.
Über die Autorin: Svenja Gräfen, geboren 1990, ist Schriftstellerin und feministische Aktivistin. Sie steht mit Texten auf der Bühne, hält Vorträge und leitet Workshops. 2018 wurde sie zum Klagenfurter Literaturkurs eingeladen und war Alfred-Döblin-Stipendiatin der Akademie der Künste Berlin. 2019 ist sie Stipendiatin im Stuttgarter Schriftstellerhaus. Sie lebt in Leipzig. "Freiraum" ist nach "Das Rauschen in unseren Köpfen" ihr zweiter Roman.
Weitere Infos unter: www.svenjagraefen.de und auf Facebook www.facebook.com
Svenja Gräfen
Freiraum
Ullstein Buchverlage, erschienen am 29. März 2019
ISBN: 13 9783961010370
340 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
20 Euro
Mehr zum Buch unter: www.ullstein-buchverlage.de
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