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Beitrag vom 06.10.2019
Angela Steidele – Zeitreisen. Vier Frauen, zwei Jahrunderte, ein Weg
Bärbel Gerdes
Im zweiten Teil ihrer Trilogie zum biographischen Schreiben tritt Angela Steidele mit ihrer Frau Suzette in die Fußstapfen von Anne Lister und deren Frau Ann Walker. Von Yorkshire via Russland in den Kaukasus und bis zum Schwarzen Meer reisen sie. Steidele stellt ihren Reisebericht dem von Anne Lister gegenüber – oftmals in einer erschreckenden Parallelität.
Am Vorabend unseres Abflugs nach Sankt Petersburg legen wir unsere Trauringe ab., schreibt die Autorin. Das ist im Jahr 2017! Anne Lister und ihre Frau reisten 1839 als Tante und Nichte - nur einer jener Fakten, der den Band Zeitreisen so überaus aktuell und spannend zu lesen macht.
In ihrer Poetik der Biographie betont die renommierte Biographin Angela Steidele, wie wichtig das Quellenstudium beim Verfassen einer Biographie sei. Diese müssen nachweisbar und überprüfbar sein. Sie arbeitet mit den Originaltagebüchern, die im Stadtarchiv von Hallifax liegen, und besucht mit ihrer Frau Shibden Hall, das Herren- oder besser Damenhaus von Anne Lister, jener Frau, die Steidele posthum eine erotische Biographie geschenkt hat. Dort steht auch jener Reisewagen, mit dem Ann Walker 1841 ihre Geliebte nach Hause brachte - tot. Anne Lister verstarb auf dieser Reise und ihre Frau brauchte sieben Monate und rund 5000 Kilometer, um den Leichnam nach Hause zu bringen.
Beim Schreiben der Biographie verfolgt Steidele den Reiseverlauf auf einer Karte und allmählich entsteht der Wunsch, sich vor Ort ein Bild zu machen, auch wenn ihr natürlich bewusst ist, dass nie ankommt, wer in die Vergangenheit reisen möchte. Doch ist sie gleichzeitig der Meinung, dass historische Darstellungen […] noch unvollkommener [wären], als sie es ohnehin sind, versuchte man sich nicht an einer solchen Zeitreise. Neben dem Reisebericht erhält die Leserin weitere Einblicke in die Beziehungsdynamik der beiden Ann(e)s: wie häufig sie sich stritten - es sei denn, sie waren auf Reisen -, dass Ann Walker Liebe wollte, Anne Lister hingegen Geld, dass Ann Walker mehrmals versuchte, sich zu trennen, was ihr misslang.
Angela Steidele nimmt ihre Frau Suzette mit, die Osteuropäisch versteht. Aufgrund ihrer Tätigkeit als Richterin, die die Erneuerung des bulgarischen Prozessrechtes begleitete, lebte sie zwei Jahre in Sofia und habe Gastarbeiter-Bulgarisch gelernt, womit sie überall in Osteuropa durchkäme.
Die beiden benutzen Züge, während sich die beiden Ladies des 19. Jahrhunderts mit der Kutsche fortbewegten. Sie hatten Empfehlungsschreiben bei sich, die Durchfahrt und Kontakte ermöglichten.
Die Visumbeantragung im 21. Jahrhundert gestaltet sich als schwierig. Es werden so undurchsichtige und umfangreiche Papiere benötigt, dass man sich an sowjetische Zeiten erinnert fühlt.
Beide Paare nehmen zeitgenössische Reisebeschreibungen mit, um sich daran zu orientieren. Anne Lister legt anhand dieser Bücher ihre Reiseroute fest.
Geschickt verbindet Steidele diese beiden Reisen miteinander, beleuchtet die geschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergründe und bietet gleichzeitig ein höchst aktuelles und auch verstörendes Bild der politischen Lage in Russland und Georgien.
Das Auswärtige Amt warnt davor, dass die Weitergabe von Informationen, öffentlicher Demonstration und Unterstützung von Homosexualität hohe Geldbußen und Haft bis zu 15 Tagen nach sich ziehen könnten. 1716 stellte Peter I. das erste Mal Sex zwischen Männern unter Strafe. Sex zwischen Frauen war hingegen in Russland nie strafbar.
Die Autorin ist zu einer Lesung eingeladen, in der sie ihre erotische Lister-Biographie vorstellen soll. Erst kurz vor der Veranstaltung wird den angemeldeten Personen der Ort bekannt gegeben aus Angst, Schlägertrupps könnten die Veranstaltung niederknüppeln.
Mit einer überreichen Fülle an Informationen wandert die Leserin durch Sankt Petersburg, wo hier die Geschichte des berühmten Bernsteinzimmers Erwähnung findet, dort die Beobachtung, dass aufgrund Russlands Rolle in der Ukraine und in Syrien weniger europäische TouristInnen kämen, dafür zunehmend chinesische.
Steidele zeichnet Russlands Weg vom brutalen Polizeistaat des Zaren Nikolaus nach hin zum Spitzelsystem der Sowjets und der heutigen Machtfülle Putins – die Anne Lister vermutlich durchaus bewundert hätte. Sie war eine stramme Tory-Befürworterin, die sich gewünscht hätte gegen die aufkommende Gewerkschaftsbewegung ähnlich durchgreifen zu können wie der Zar gegen Aufständische.
Der heutige Schulterschluss zwischen der orthodoxen Kirche und Putin trägt erheblich zu dessen großen Macht bei.
Anschaulich beschreibt Steidele die überaus schwierige und anstrengende Reise ihrer Vor-Gängerinnen, die sich mit schmutzigen Unterkünften, erschöpften Pferden und schlechten Wegen herumschlagen mussten.
Ihr gelingt es oft mit großem Humor, beide Reisen fühlbar und erlebbar zu machen. Dies, obwohl Suzette und Angela Steidele in jedem der besuchten Länder, darunter Georgien und Aserbaidschan, auf eine starke homophobe Front treffen, die von den jeweiligen Regierungen gepusht wird.
Die Visummodalitäten zwischen den einzelnen Ländern sind höchst kompliziert und hängen zum Teil auch davon ab, inwiefern sich diese Länder zur Zeit freundlich oder feindlich gegenüberstehen.
Angela Steidele bringt ihr umfassendes und überbordendes Wissen in diesen Reisebericht ein – und das ist die einzige Schwäche, die dieses Buch hat. Frau muss ein gewisses Interesse für die bereisten Länder, aber auch für die besuchten Kathedralen und Kirchen mit ihrer reichen Geschichte mitbringen, um am Ball bzw. am Buch zu bleiben.
AVIVA-Tipp: Einmal mehr lässt uns Angela Steidele über ihre Schulter gucken und nimmt die Leserin auf gleich zwei Reisen mit in fremde Zeiten und Länder. Glänzend geschrieben und mit einem überaus wachen Blick für die gegenwärtigen politischen Verwerfungen in Osteuropa ist dieses Buch sowohl feministische, lesbische Zeitgeschichte als auch Reisebericht aus dem 18. Jahrhunderts.
Zur Autorin: Angela Steidele, geboren 1968, Dr. phil., arbeitete nach dem Abitur von 1988-1990 als Freiwillige der Aktion Sühnezeichen e. V. zunächst in einem Kibbutz, dann in einem Elternheim in Israel. Sie erforscht die Geschichte der Frauenliebe vor Erfindung der "Homosexualität" (1869). Ihrer Dissertation "Als wenn du mein Geliebter wärest." Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750-1850 (Stuttgart: Metzler, 2003) folgte die Biographie der letzten Frau, die in Europa wegen der so genannten Unzucht mit einer anderen Frau hingerichtet wurde: "In Männerkleidern." Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721" (Köln: Böhlau, 2004). Das Buch wurde mit dem Gleim-Literaturpreis ausgezeichnet. Ihr erster Titel im Insel Verlag, "Geschichte einer Liebe: Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens" (2011) erzählt von der wechselvollen Beziehung zweier Frauen an der Schwelle zur lesbischen Identität der Moderne. 2015 erschien ihr Roman "Rosenstengel: Ein Manuskript aus dem Umfeld Ludwigs II.", für den sie den Bayerischen Buchpreis erhielt. 2017 erschien der erste Teil ihrer Trilogie zum biographischen Schreiben Anne Lister – eine erotische Biographie. Der dritte Teil erschien 2019 unter dem Titel Poetik der Biograpie. Angela Steidele lebt, schreibt und gärtnert in Köln.
(Quelle: Verlagsinformation und Literaturport).
Angela Steidele
Zeitreisen. Vier Frauen, zwei Jahrunderte, ein Weg
Matthes & Seitz, erschienen im 30. August 2018
269 Seiten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-95757-635-4
Euro 24,00
Mehr zum Buch: www.matthes-seitz-berlin.de
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Angela Steidele - Poetik der Biographie
In ihrer höchst lesenswerten "Poetik der Biographie" untersucht die begnadete Biographin Angela Steidele ("Anne Lister", "Geschichte einer Liebe") die Charakteristika, Merkmale und Notwendigkeiten ihres eigenen Genres. Ist die Biographie reines Handwerk, Kunst oder gar Wissenschaft? Und was soll sie leisten: reine Fakten oder unterhaltsame Lektüre? (2019)
Angela Steidele - Anne Lister. Eine erotische Biographie
Die mehrfach ausgezeichnete Autorin Angela Steidele ("Geschichte einer Liebe – Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens") beschenkt uns mit einer höchstamüsanten Lektüre: der Lebensgeschichte Anne Listers, eine Frauenheldin, Lüstlingin und Heiratsschwindlerin des beginnenden 19. Jahrhunderts. Schon das Layout dieses Buches, das im großartigen Verlag Matthes & Seitz erschien, lässt uns … nun ja, zugreifen. (2017)
Angela Steidele - Geschichte einer Liebe. Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens
Die Leserin erfährt in diesem Buch von Frauenlieben und -beziehungen und davon, dass es sich nicht um singuläre Phänomene handelte, "zu einer Zeit, als es Liebe zwischen Frauen offiziell gar nicht geben durfte". (2010)
Marianne Zückler - Osteuropa Express. Erzählungen über Freiheit, Liebe, Sexualität und Ausgrenzung
In vielen osteuropäischen Ländern ist die Situation homosexueller, trans- und intersexueller Menschen unsicher bis gefährlich. In ihren Erzählungen begibt sich die Autorin und Theaterwissenschaftlerin in acht Schicksalen, die auf realen Interviews mit unmittelbar Betroffenen aus Polen, Ungarn, Lettland, Litauen und Deutschland fußen, auf Spurensuche. (2017)