Eva Weissweiler – DAS ECHO DEINER FRAGE. Dora und Walter Benjamin. Biographie einer Beziehung - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 21.03.2020


Eva Weissweiler – DAS ECHO DEINER FRAGE. Dora und Walter Benjamin. Biographie einer Beziehung
Silvy Pommerenke

Während der Philosoph Walter Benjamin den meisten Menschen bekannt sein dürfte, gehört die Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin Dora Sophie Kellner, spätere Benjamin, nicht zum allgemeinen Wissenskanon. Dabei stand sie ihm im intellektuellen Sinne in nichts nach. Die Schriftstellerin und Rundfunkautorin Eva Weissweiler sorgt mit ihrer Biographie dafür, dass Dora die ihr gebührende Aufmerksamkeit erhält. Zuvor hatte sich bereits 2012 die Literaturwissenschaftlerin Maya Nitis in ihrem Beitrag "A Woman´s Many Names" Dora Sophie Kellner im AVIVA-Projekt "Writing Girls" gewidmet.




Dora Sophie Kellner, am 6. Januar 1890 in Wien geboren, wuchs in einem bildungsbürgerlichen, jüdischen Elternhaus auf. Neben Dora gab es noch eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder. Die Mutter Anna hatte eine Höhere Tochterschule besucht, sprach mehrere Sprachen, arbeitete als erfolgreiche Übersetzerin für große Verlage und trug so zu einem wesentlichen Teil zur Versorgung der Familie bei. Der Vater Leon war Zionist und Privatdozent für Sprachwissenschaften, schrieb für das Feuilleton und reiste häufig nach England. Wegen seiner konservativen Ansichten erlaubte er seinen Töchtern weder eine Schulbildung, noch ließ er Sport oder Freundschaften zu. Er wollte sie auf den "Beruf des Weibes" vorbereiten, der lediglich Reproduktionszwecken und der Unterhaltung diente. Von der damals aufkommenden Frauenbewegung hielt er gar nichts und wetterte öffentlich in Zeitungsartikeln dagegen. Erst als die Familie für ein Jahr nach England ging, gestattete er Dora den Besuch des Royal College of Music, da sie musisch sehr begabt war. Zurück in Wien übernahm er die Redaktion des "Zentralorgans der zionistischen Bewegung", dessen Herausgeber sein Freund Theodor Herzl war. Allerdings gab er diese Arbeit aufgrund unüberbrückbarer Differenzen mit Herzl bald auf.

Doras Leben wurde von dem Konservatismus des Vaters und den häufigen Umzügen bestimmt. Neben Wien und London lebte die Familie in Troppau und Czernowitz, sodass sie kaum irgendwo Wurzeln schlagen konnte. Erst als sie mit der Mutter und dem Bruder - ohne den Vater, der in Czernowitz blieb - zurück nach Wien ging, änderte sich ihr Leben grundlegend. Sie besuchte das Mädchenlyzeum und glänzte mit überdurchschnittlichen Leistungen, die ihr ein Studium der Chemie und Philosophie ermöglichten. 1912 wurde sie genötigt, eine Ehe mit Max Pollak einzugehen. Das Paar floh vor der elterlichen Bevormundung nach Berlin und bezog eine Wohnung in der Nähe der Motzstraße. Obgleich die Ehe arrangiert war und niemals im sexuellen Sinne vollzogen wurde, schienen die beiden halbwegs gut miteinander ausgekommen zu sein. Ihr Weg führte sie bald in intellektuelle und künstlerische Kreise, in den sogenannten "Sprechsaal", zu dem auch Walter Benjamin gehörte, der 1882 in Charlottenburg geboren wurde und einer assimilierten jüdischen Berliner Familie entstammte. In diesem Kreis wurde nicht nur intellektuell diskutiert, sondern die Libido spielte auch eine große Rolle, und fast jede/r war in jede/n verliebt.

Nachdem sich Dora und Max trennten und auch Walter frei war, da die Verlobung mit Grete Radt, einer Studentin der Philosophie, aufgelöst wurde, weil ihre Eltern ihn als Ehemann nicht akzeptierten - zudem wurde er wegen seiner schwachen physischen Konstitution vom Kriegsdienst zurückgestellt -, waren Dora und Walter ab dem Sommer 1916 ein Paar. Sie lebten in Seeshaupt, am Starnberger See, und während Walter Aufsätze schrieb, übernahm Dora die Rolle seiner Sekretärin. Durch die Scheidung von Pollak war Dora eine vermögende Frau geworden, und um dieses Vermögen aufrechtzuerhalten, veranlassten im April 1917 ihre Eltern einen für diese Zeit ungewöhnlichen Ehevertrag der Gütertrennung. Außerdem verpflichteten sich die Eltern Walters im Falle seines Ablebens, Dora bis zu ihrem Lebensende bzw. bis zu einer eventuellen Wiederverheiratung monatliche Alimente zu zahlen.

Um der erneuten Musterung von Walter zu entgehen, zog das jungvermählte Paar in die neutrale Schweiz, und Walter immatrikulierte sich in Bern an der Universität, wo er seine Dissertation zu der Dichtungstheorie Friedrich Schlegels verfasste. Im April 1918 kam der gemeinsame Sohn Stefan zur Welt. Walter Benjamin hatte zuvor weder über Doras Schwangerschaft oder über seine eigene mögliche Vorfreude über das Kind eine Zeile verloren. Der Sohn schien denn auch mehr Last als Freude gewesen zu sein. Und Dora bemerkte, dass in der Ehe mit einem "Genie" kein Platz für ein Kind sei. Zumal sie Walter selbst noch als Kind empfand. Es kam zu häufigen Streitereien zwischen dem Paar.

Zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die deutschen Emigrant*innen von der "schweizerischen Fremdenpolizei" scharf überwacht, da sie "bolschewistischer Umtriebe" verdächtigt wurden. Da Walter mittlerweile auch seine Dissertation abgeschlossen hatte, gingen die Benjamins nach einigen Umwegen zurück nach Berlin.
Weil Doras Mitgift im Frühjahr 1920 durch den luxuriösen Lebensstil des jungen Ehepaares aufgebraucht war und Walter keine finanzielle Unterstützung mehr von seinen Eltern erhielt, mussten die beiden einer Arbeit nachgehen. Dora bekam eine Anstellung als Übersetzerin beim United Telegraph und verdiente ausgesprochen gut. Walter verdingte sich mit graphologischen Analysen. Aber die politische Situation verschärfte sich: antisemitische Ausschreitungen häuften sich, die NSDAP veröffentlichte ihr Parteiprogramm und es gab soziale Unruhen.

Im Jahr darauf verliebte sich Dora heftig in Ernst Schoen, ihren alten Briefpartner aus Schweizer Zeiten und fing eine Affäre mit ihm an. Ein Grund dafür war, dass Dora die Geistigkeit von Walter als störend empfand, da diese seinem Eros im Wege stehen würde. Zudem war sein Verhalten häufig zwangsneurotisch. Es scheint nicht verwunderlich, dass sie in den Armen eines anderen Mannes landete. Aber auch Walter verliebte sich seinerseits hoffnungslos in eine andere Frau, und die Ehe der Benjamins stand auf einem harten Prüfstein. Sie lebten mittlerweile getrennt, konnten dennoch nicht voneinander lassen. Walter ging im April 1924 für sieben Monate nach Capri um seine Habilitationsschrift "Ursprung des deutschen Trauerspiels" zum Abschluss zu bringen, auch wenn ihm eigentlich die Lust dazu fehlte. Vielleicht spürten das seine Gutachter, die die Arbeit schlichtweg ablehnten. Finanziert wurde ihm diese Auszeit unter anderem von Dora, die in Berlin blieb, sich als Journalistin und Autorin einen Namen machte und sich um den gemeinsamen Sohn Stefan kümmerte.

Eva Weissweiler demontiert Walter Benjamin mehr als einmal in ihrer Biographie. Mit Zitaten, beispielsweise von Gershom Scholem, - einem Freund beider Benjamins -, der bei ihm einen geistigen Führungsanspruch und einen leichten Hang zum Despotischen wahrnahm, oder des Philosophieprofessors Wilhelm Jerusalem, der seine Dissertation nicht als bahnbrechend empfand - wie fast alle nachfolgenden Benjamin Expert*innen verlauten lassen - sondern sie durchaus kritisierte. Auch die Ablehnung der Gutachter von Benjamins Habilitationsschrift belegt die Biographin mit Zitaten. Sein Betreuer und zwei weitere Universitätsmitglieder fanden keinen Zugang zu der Arbeit und seine Ausführungen unverständlich. Nichts desto trotz wurde die Arbeit "Ursprung des deutschen Trauerspiels" 1928 bei Rowohlt veröffentlich und gilt heute als eine der bedeutendsten Schriften Walter Benjamins.

Im Dezember 1926 wurde Dora Chefredakteurin der "Praktischen Berlinerin" und schrieb für "Die Dame", eine der elegantesten Zeitschriften der Weimarer Republik. Walter schrieb Essays, Artikel, neuerdings auch Tagebuch und arbeitete – ebenso wie Dora - für den Rundfunk. Er reiste nach Frankreich und Russland, um seiner Geliebten Asja Lacis den Hof zu machen. Weil sie seine Bitte nicht erhörte, bekam er "einen Nervenzusammenbruch nach dem anderen", wie er in einem Brief verriet. Zurück in Berlin landete er wieder bei Dora. Sie arrangierten sich für eine gewisse Zeit und waren kurzfristig wieder glücklich miteinander. Trotzdem ging Walter wieder allein auf Reisen und entdeckte die Droge Haschisch für sich, die in seinen Augen seine philosophische Arbeit vorantrieb.

Dora veröffentlichte nun ihre Texte unter dem Namen Dora Sophie Kellner - die Ablösung von Benjamin erhielt somit also auch schriftlich einen Beleg. Sie schrieb für verschiedene Zeitungen, ebenso wie Walter, aber ihre Textproduktion schien umfangreicher gewesen zu sein, ebenso wie ihr Einkommen, so dass sie ihren Noch-Mann, der mittlerweile sein Erbe durchgebracht hatte, finanziell unterstützte.

Trotz alledem reichte Walter im Mai 1929 die Scheidung ein und versuchte auf unredliche Art, Dora die gesamte Schuld für das Scheitern der Ehe zuzuschreiben. Wenn er damit durchkäme, verlöre sie ihren ganzen Besitz und das Sorgerecht für den Sohn. Daraufhin erhob sie Gegenklage, während Walter schon Heiratspläne mit seiner Dauer-Geliebten Asja Lacis schmiedete. Parallel zu der Scheidung schrieb Dora ihren politischen Roman "Gas gegen Gas", der 1930 als Fortsetzungsroman in der Südwestdeutschen Rundfunkzeitung erschien und später unter dem Titel "Das Mädchen von Lagosta" in anderen Zeitungen.

Im März 1930 war die Scheidung von Dora und Walter rechtskräftig. Aber Walters Rechnung ging nicht auf, denn er wurde vom Gericht für schuldig befunden und musste die gesamten Kosten des Rechtsstreits tragen. Als weiteres Unglück kam für ihn hinzu, dass ihn seine Geliebte Asja Lacis verließ, weil sie an einem Mann ohne Geld kein Interesse hatte.

Die Scheidung hinterließ bei Dora zwar tiefe Spuren, zumal sich viele Freund*innen von ihr abwandten, aber beruflich lief es sehr gut für sie. Zu Walters Glück verzichtete Dora auf die Zahlung von Unterhalt und trug ihm auch nichts nach, sondern fühlte sich glücklicher als je zuvor, wie sie in einem Brief an Gershom Scholem berichtete. Trotz der Scheidung blieben die beiden weiterhin in Kontakt. Während der Jahre im Exil zog es Walter immer wieder zu Dora, die mittlerweile in dem italienischen Kurort San Remo lebte, wo sie eine eigene Pension führte. Auch sie hielt weiterhin den Kontakt zu Walter und lud ihn ein, jederzeit nach San Remo zu kommen. Zudem unterstützte sie ihn immer wieder finanziell. Als letzten Beitrag für Walter versuchte sie ihm einen neuen - französischen - Pass zu besorgen, da seiner abgelaufen war. Er lehnte dies u.a. aus dem Grund ab, weil er dadurch eine Verhaftung befürchtete.

Im Dezember 1939 sahen sich Dora und Walter ein letztes Mal. Briefkontakt hatten sie wegen des Krieges, der den Postverkehr zum Erliegen brachte, nicht mehr. Walter Benjamin nahm sich auf der Flucht vor der Gestapo am 26.09.1940 in dem spanischen Grenzort Port Bou das Leben. Dora Sophie Kellner, bzw. Dora Morser - sie hatte eine Scheinehe mit ihrem Jugendfreund Harry Morser eingegangen, um sich vor der Nazi-Willkür zu schützen - emigrierte 1939 nach London, wo sie bis zu ihrem Tod 1964 lebte und mehrere Hotels betrieb.

AVIVA-Tipp: Es ist erfrischend, dass Eva Weissweiler den Fokus in dieser Biographie schwerpunktmäßig auf Dora und nicht auf Walter legt. Selbstredend werden seine wichtigen Lebensstationen nachgezeichnet, doch Dora erhält endlich den ihr gebührenden Raum. Sie war eine moderne und kluge Frau, die ihr eigenes Geld verdiente und häufig ihren Mann finanziell unterstützte, weil er scheinbar nicht aus eigener Kraft dazu fähig war. Seine Pedanterie, seine Neurosen und sein Egoismus kommen ebenfalls zur Sprache und dürften Benjamin Liebhaber*innen vermutlich ein Dorn im Auge sein. Es braucht mehr Frauen wie Eva Weissweiler, um (schreibende) Frauen aus der Unsichtbarkeit hervorzuholen, zu der sie häufig durch Ehemänner oder Väter verdammt sind und waren. Zwar kürzt Eva Weissweiler die letzten Jahre im Exil radikal ab, mit der Begründung, dass darüber schon so viel geschrieben worden sei, was sehr bedauerlich ist, denn dadurch erscheint die Biographie etwas unvollständig. Hier hätte sie ein wenig ausholen dürfen. Nichts destotrotz ist dank der akribischen Recherchearbeit Weissweilers sowie zahlreicher Briefauszüge und journalistischer Texte ein umfassendes Bild von der Beziehung Dora und Walter Benjamins sowie deren Arbeiten entstanden, das so bislang einmalig sein dürfte.

Zur Autorin: Eva Weissweiler, Dr. phil., wurde 1951 geboren und absolvierte ein Studium der Musikwissenschaft, Germanistik und Islamwissenschaft. Sie hat bereits diverse hochkarätige Biographien verfasst. Dabei legt sie den Schwerpunkt auf die unsichtbaren Frauen, die entweder als Tochter oder als Ehefrau im Schatten der Männer standen, trotz dem sie Großes geleistet haben. Weissweiler führt die Frauen aus diesem Schatten heraus und verschafft ihnen mit ihren Büchern den längst überfälligen und notwendigen Raum in der Kulturgeschichte. Zu den Veröffentlichungen von Eva Weissweiler gehören u.a. "Clara Schumann", "Die Freuds", "Tussy Marx. Das Drama der Vatertochter" oder "Lady Liberty: Das Leben der jüngsten Marx-Tochter Eleanor". Sie lebt als freie Schriftstellerin und Rundfunkautorin mit ihrem Mann in Köln.

Eva Weissweiler
Das Echo deiner Frage
Dora und Walter Benjamin - Biographie einer Beziehung

Hoffmann und Campe Verlag, Erscheinungstermin 01/2020
Gebunden, 368 Seiten
ISBN 978-3-455-00643-8
Euro 24,00
Mehr zum Buch unter: www.hoffmann-und-campe.de

Mehr Infos zu Dora Sophie Kellner:

www.deutsche-biographie.de

www.portal.dnb.de

Mehr Infos zu Walter Benjamin:

www.adk.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

A Woman´s Many Names - Dora Sophie Kellner, by Maya Nitis
How many names could a Jewish woman have in the Berlin of the 1920´s and 30´s, how many books must she write, translate, how many magazines edit, how many men help, before she might be remembered? (2012)
Entstanden ist dieser Beitrag im Rahmen des Projekts "Jüdische Frauengeschichte(n) in Berlin - Writing Girls - Journalismus in den Neuen Medien" AVIVA-Berlin. Die Durchführung wurde ermöglich durch eine Kooperation der Stiftung ZURÜCKGEBEN, Stiftung zur Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft


Literatur

Beitrag vom 21.03.2020

Silvy Pommerenke