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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 17.09.2021


Das Land der Anderen - Leïla Slimani (Le Pays Des Autres)
Joanna Piekarska

Sie ist Französin, er ist Marokkaner: Mit der Geschichte dieses Paares auf ihrer Suche nach kultureller Identität stellt die französisch-marokkanische Schriftstellerin Leïla Slimani ("Dann schlaf auch du") vor dem Hintergrund der Unabhängigkeitsbewegungen in Marokko 1953 rassistische und sexistische Binaritäten infrage.




Angelegt als erster Teil einer Trilogie zur Geschichte Marokkos seit dem Zweiten Weltkrieg vereint Das Land der Anderen historische Fakten mit der fiktiven Geschichte eines Paares, das aus verschiedenen Welten zu kommen scheint: Die Elsässerin Mathilde verliebt sich in den Marokkaner Amine, der im Zweiten Weltkrieg für die Französische Armee kämpft. Sie wird schwanger und zieht mit ihm auf eine abgelegene Farm in seiner Heimat, das französische Protektorat Marokko.

Mathilde, die Liebe, Neugier und Abenteuerlust nach Marokko gezogen haben, wird bereits kurz nach ihrer Ankunft in Meknès desillusioniert: Amine, in Frankreich noch der leidenschaftliche Liebhaber, wird zurück in Marokko schnell zum Patriarchen, dessen Gedanken ausschließlich bei der Arbeit auf der Farm sind. Er ist genervt von Mathildes Freiheitsdrang und kann nicht verstehen, dass sie von den Geschlechterrollen im Land schockiert ist. Mathilde merkt schnell, dass sie von Amine – vor allem finanziell – abhängig ist und dazu gezwungen ist, sich seinen von eben diesen patriarchalen Geschlechterrollen geprägten Vorstellungen zu beugen.

Unvereinbare Gegensätze

Mathilde wird in Marokko mit den vermeintlich unvereinbaren Dichotomien der Geschlechter und Klassen konfrontiert. Sie selbst zeigt eine internalisierte Misogynie, vor allem marokkanischen Frauen gegenüber, in die ein Rassismus eingeschrieben ist, von dem sie sich kaum lösen kann. Wenngleich sie sich für aufgeklärter als die marokkanische Bevölkerung hält, ist sie gleichzeitig nicht Teil der Gemeinschaft der französischen SiedlerInnen, da diese sie aufgrund ihrer Ehe mit einem Araber verurteilen und ihre Familie verachten.

Aber nicht nur Mathilde, sondern auch Amine und die Kinder fühlen sich weder der einen noch der anderen Kultur vollends zugehörig und stellen sich immer wieder die Frage der eigenen Identität.Um ihren Kindern die vermeintliche Ambivalenz der eigenen Familie darzustellen, nutzen Amine und Mathilde das Bild des Zitrangenbaumes, eine Mischung aus Zitrone und Orange, die Amine auf der Farm züchtet. "Wir, sagte er, sind wie dein Baum, halb Zitrone, halb Orange. Wir gehören zu keiner Seite."

Mit dieser Metapher gelingt es Leïla Slimani, die Familie als nach außen hin abgegrenzte Einheit darzustellen, die gerade durch ihre Unterschiede verbunden ist. Gleichzeitig wird immer wieder deutlich, dass die Konflikte mit der Außenwelt die Gegensätze innerhalb der Familie weiter betonen und verstärken. Der Konflikt verstärkt sich mit den ab 1953 zunehmenden Unabhängigkeitsbewegungen in Marokko, da das Paar nicht weiß, auf wessen Seite es steht. "Sie waren Opfer und Henker zugleich, Kameraden und Gegner, zwei hybride Wesen, die nicht zu benennen vermochten, wem ihre Loyalität galt. Zwei Exkommunizierte, die in keiner Kirche mehr beten können und deren Gott ein geheimer, intimer Gott ist, dessen Namen sie nicht einmal kennen."

Innere Widersprüche

Leïla Slimani stellt die Zerrissenheit der Bevölkerung zu Zeiten der Unabhängigkeitsbewegungen anhand unterschiedlicher Charaktere dar: Amines Schwester, die für einen Wunsch nach weiblicher Selbstermächtigung steht, wird von Amines Bruder, einem Nationalisten, unterdrückt. Amines Mutter symbolisiert marokkanische Tradition, sein Freund Mourad die Treue zu Frankreich.

Während diese Figuren eindeutig mit der stereotypen Einteilung spielen, zeigen Amine und Mathilde, dass diese Widersprüche auch innerhalb einer Person zu finden sein können. Nicht nur als Paar, sondern auch als Individuen müssen sie mit ambivalenten Gefühlen umgehen: Amine stellt sich die Frage, ob er Frankreich hassen darf und muss seine internalisierte Rolle als Familienoberhaupt immer wieder mit sich und Mathilde aushandeln. Mathilde beschäftigt die Suche nach ihrer Heimat, ihrer Identität und ihren Werten. Auch wenn sie die marokkanische Kultur nie vollends annehmen kann und sich nicht von rassistischen Vorurteilen lösen kann, verinnerlicht sie die islamischen Grundsätze immer mehr. So hilft sie Amine, seine Schwester zwangszuverheiraten, statt ihr bei der Flucht zu helfen. Damit steht sie eindeutig zwischen den beiden Polen.

Vielschichtige Konflikte

Obwohl es der Leserin nicht leicht gemacht wird, mit den ProtagonistInnen zu sympathisieren, gelingt es Leïla Slimani, ihre Entscheidungen nachvollziehbar werden zu lassen. In der für sie typisch distanzierten Sprache, die die Figuren nie ganz nah- und greifbar werden lässt, beschreibt Leïla Slimani kein konkretes Ereignis, sondern das Alltägliche im Leben der Familie. Die detaillierten Schilderungen vermeintlich belangloser Geschehnisse sorgen dafür, dass die Leserin tief in das Alltagsleben der Familie eintauchen kann, vermitteln aber auch ein Gefühl der Schwere und Beklemmung. Doch genau diese monotone Beschreibung des tagtäglichen Lebens erlaubt Einblicke in Mathildes Gefühlswelt: Entgegen ihrer Vorstellungen reduziert ihr Leben sich auf die Rolle der Ehefrau und Mutter. Dabei zermürben die sich täglich wiederholenden Abläufe des häuslichen Lebens und die Wutanfälle ihres Mannes sie zunehmend.

Die Beklemmung wird hin und wieder durch Hoffnungsschimmer unterbrochen, in denen Mathildes lebenshungriges und wildes Naturell zum Vorschein kommt, nur um sie im Anschluss noch tiefer fallen zu lassen als zuvor. So verabschiedet sie sich immer mehr von dem, was sie ursprünglich bewegt hat, nach Marokko zu gehen. Und trotzdem kann sie sich nicht von ihrer Zerrissenheit trennen. "Das Land der Anderen" bleibt ihr immer fremd.

Leïla Slimani wird als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs gehandelt, doch die Diskussion um kulturelle Unterschiede, Identität, Assimilation und die Stellung der Frauen hat eine universelle Bedeutung. So gelingt es Leïla Slimani in "Das Land der Anderen" wie bereits in den früheren Romanen und Essays, gesamtgesellschaftliche Themen anhand einer individuellen Geschichte aufzuzeigen.

AVIVA-Tipp: Leïla Slimani hinterfragt die Dichotomien von Geschlecht, Klasse und Hautfarbe, ohne belehrend zu sein. Dabei entfacht sie mit der Komplexität und Tiefe der Geschichte in der Leserin eine Zerrissenheit, die auch über die letzte Seite hinaus anhält.

Zur Autorin: Leïla Slimani, geboren 1981 in Rabat, lebt seit ihrem Studium an der Eliteuniversität Scienes Po in Paris. Ihre Bücher sind internationale Bestseller. Ihren größten Erfolg feierte sie mit dem psychologischen Thriller "Dann schlaf auch du", der in 32 Ländern erschienen ist. 2016 wurde sie für den Roman mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, dem höchsten Literaturpreis Frankreichs. Die Schriftstellerin und Journalistin ist seit 2017 offiziell Botschafterin für Frankophonie.
(Quelle: Verlagsinformation)

Zur Übersetzerin: Amelie Thoma, geboren 1970, studierte Romanistik und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie arbeitet als Übersetzerin aus dem Italienischen und Französischen und übertrug bereits Leïla Slimanis Werke "Dann schlaf auch du", "All das zu verlieren" und "Eine freie Frau" ins Deutsche.
Weitere Informationen zu Amelie Thoma unter: www.randomhouse.de

Leïla Slimani
Das Land der Anderen

Originaltitel: Le Pays Des Autres
Ãœbersetzerin: Amelie Thoma
Luchterhand Verlag, erschienen am 24.Mai 2021
384 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-630-87646-7
22,00 Euro
Mehr zum Buch und der Autorin unter: www.randomhouse.de

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Spannende Publikationen der französisch-marokkanischen Schriftstellerin und Journalistin Leïla Slimani rund um die Themen sexuelle Freiheit, Tabus und Rassismus
Es sind sowohl kulturelle, gesellschaftliche, globale Themen als auch Fragen ihrer eigenen Identität, denen Leïla Slimani sorgfältig auf den Grund geht. AVIVA stellt einen Roman, sowie Kolumnen, Gespräche und Essays der "neuen Stimme Frankreichs" vor, die 2016 für ihren Roman "Dann schlaf auch du" mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. (2019)

Leïla Slimani. Dann schlaf auch du. (Chanson douce)
Das Böse befindet sich manchmal näher, als es Eltern lieb ist. Diese schmerzliche Erfahrung müssen Myriam und Paul Massé auf grausame Weise machen, als sie ihrer gewissenhaften Nanny Louise das Kostbarste anvertrauen, was sie besitzen: ihre Kinder. Der Roman der 1981 in Rabat geborenen Journalistin und Autorin wurde mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet und erschien in 32 Ländern. (2017)


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Beitrag vom 17.09.2021

AVIVA-Redaktion