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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 02.02.2009


Nea Weissberg - Das Glück hat mich umarmt
Gesine Strempel

Die braune Brühe auslöffeln. Nea Weissberg, Verlegerin deutsch-jüdischer Themen, hat nun selbst ein Buch darüber geschrieben, wie die Schoa ihr Leben geprägt hat. Erschienen im Lichtig Verlag.




Seit zwei Jahrzehnten publiziert Nea Weissberg als Verlegerin und Herausgeberin Bücher, die den Dialog zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen fördern. Beharrlich fordert sie die nichtjüdischen Deutschen ihrer Generation auf – geboren während des Krieges oder danach oder noch viel später, also die dritte Generation – ,sich auseinanderzusetzen mit der Vergangenheit der Eltern und Großeltern. Wie sah deren Beteiligung an der Schoa aus, waren sie aktiv, waren sie Mitläufer? Wie haben sie profitiert? Kommt es ihnen in den Sinn, sich zu fragen, auf welche Weise die Welt, in der sie aufwuchsen, auch sie geprägt hat?

Als man Juden alles, sogar das Leben raubte... Über die nachträgliche Wirksamkeit nationalsozialistischer Zerstörung, erschienen in Nea Weissbergs Lichtig Verlag, soll als Beispiel genannt werden für die kontinuierliche Auseinandersetzung, die sie mit ihren Veröffentlichungen mitträgt. Ihr neues Buch Das Glück hat mich umarmt ist ein Briefroman, in dem sie zum ersten Mal von sich selbst berichtet, darüber, wie die Schoa ihr eigenes Leben geprägt hat. Sie schreibt, dass sie damit einen Tabubruch begeht, denn sie erzählt "den Deutschen" von sich, ihren Eltern, ihren Geschwistern – etwas, das streng verboten war. Dass sie für diesen Briefroman das Pseudonym Nejusch wählte, den Namen ihrer Großmutter, hat möglicherweise mit diesem Tabubruch zu tun.

Das Glück hat mich umarmt beschreibt eine jüdische Kindheit im Westberlin der Nachkriegsjahre. Nejuschs Eltern, die aus Polen stammen, überlebten die Schoa, lernten sich nach dem Krieg in Polen kennen. Der erste Sohn wurde im DP-Camp Schlachtensee geboren. Wie die Eltern nach Berlin kamen, warum sie hier hängen blieben und Deutschland nicht verließen, war kein Thema am Esstisch. Zur Familie gehören in den 50er Jahren Vater, Mutter, drei Kinder und die deutsche Kinderfrau.

Nejusch wendet sich an einen fiktiven deutschen Brieffreund, der wie sie nach dem Krieg geboren wurde, aber eben ein Kind von der anderen Seite ist. Ein Deutscher ihrer Generation, möglicherweise ein Täterkind. Einer von denen, mit denen sie nie spielen durfte. Mit seiner Hilfe will sie – inzwischen selber über fünfzig – das Familienbild zusammensetzen, für ihn ruft sie sich die Kindheit ins Gedächtnis zurück. Einen Ausflug ins Grüne zum Beispiel, an den Glienicker See:
Ich sehe in Glienicke zum ersten Mal eine blau eintätowierte Nummer und einen halben Davidstern auf dem linken Unterarm eines Bekannten meiner Eltern, wage nicht zu fragen, blinzele lieber in Richtung Sonne. Höre versteckt zu, worüber sie reden, die Auschwitzüberlebenden. Ich vermute, sie wohnen in dunklen Höhlen, dass sie gezwungen wären, dort zu leben, wegen des Tonfalls, wegen der Dinge, die sie erzählen.

In Nejuschs Briefen an den Freund, den Liebsten (?), kommt die Sehnsucht zum Ausdruck, sich gemeinsam die Last der Erinnerung anzusehen. Könnte dieser Deutsche einer sein, der an ihr mitträgt, indem er auch Auskunft gibt über sich selbst? Der Ton ihrer Briefe schwankt zwischen Trotz, Trauer und bitterem Witz.

Pst! Unter uns gesagt: Meine Eltern waren nicht im Konzentrationslager, sie hatten in dieser Hinsicht nichts zu melden, Zweiter-Klasse-Opfer sozusagen! Aber mitreden konnte ich später trotzdem: hundertzwanzig ermordete Verwandte immerhin, keine schlechte Bilanz ... Sie alle haben keine Grabsteine. Wie viel Kraft die Eltern brauchten, um die Trauer auszuhalten? Und ihren Groll, ihre Bitterkeit? Frag nicht, sie hatten zu tun – sie weinten innerlich.

Ihre Eltern weigerten sich, von der Vergangenheit zu berichten. Langsam begreift die Briefeschreiberin, dass das Leben für ihre Eltern erst nach der Schoa begann, da alles, was vorher war, zugedeckt ist von Leichenbergen, wie sie sagt. Das Buch ist also auch ein Entwicklungsroman. Denn die Briefe an den Freund werden mehr und mehr zu Liebeserklärungen an die Eltern, die Zwillingsschwester, den verstorbenen Bruder. Als sie anfängt, den Freund zu fragen, wie er es denn schaffe, seinen Alltag, seine Familie und die eigene Erziehung mit der Vergangenheit zu verknüpfen, zerbricht fast die Freundschaft. Sie solle aufhören in der braunen Brühe herumzustochern, schreibt er zurück. Sie will, dass auch er diese Brühe auslöffelt, so wie sie es muss.

Durch die Beschäftigung mit der Geschichte ihrer eigenen Familie ist es Nea Weissberg schließlich im Jahr 2008 doch gelungen, ihren Vater dazu zu bringen, darüber zu sprechen, wie es ihm erging, als er als junger Mann zurückkam nach Lemberg, zwei Wochen nach dem Pogrom 1941. Was er erzählt, schnürt der Tochter die Kehle zu, sie meint, ersticken zu müssen, doch der Vater, der entkommen konnte, sagt: "Tochter, das Glück hat mich umarmt".

Der Titel des Briefromans ist eine Verbeugung vor dem heute 90-jährigen Vater. Nea Weissberg hat ihr Buch mit Beiträgen der israelischen Schriftstellerin Halina Birenbaum und den PsychoanalytikerInnen Hella Goldfein und Jürgen Müller-Hohagen vervollständigt. Das ist, schlicht gesagt, fast zu bescheiden, der Roman braucht keine Bestätigung. Denn die Briefe dieser Tochter der zweiten Generation an einen anonym bleibenden Deutschen sind klar und genau, verweisen schmerzhaft auf das Heute. Was macht die Schoa mit uns, der zweiten, der dritten, mit der vierten jüdischen Generation in Deutschland, was macht es mit uns, den anderen, der Mehrheit? Was bleibt am Ende? Ein Gegenüber, das sich weigert, die braune Brühe auszulöffeln? Eins ist sicher: Es ist einfach nicht vorbei.


Zur Autorin: Nea Weissberg, Anfang der 50er Jahre geboren, lebt in Berlin. Seit 1990 veröffentlicht sie Beiträge zur jüdischen Gegenwart. Weitere Infos und Kontakt unter: www.lichtig-verlag.de

Nea Weissberg
Nejusch: Das Glück hat mich umarmt

Ein Briefroman mit Beiträgen von Halina Birenbaum, Hella Goldfein, und Jürgen Müller- Hohagen.
Lichtig Verlag Berlin, erschienen 2008
ISBN 3-929905-21-3
170 Seiten
Euro 21.50
Vertrieb über die Literaturhandlung Rachel Salamander, Berlin - München.




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Beitrag vom 02.02.2009

AVIVA-Redaktion