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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 09.12.2009


Katharina Hacker - Alix, Anton und die anderen
Adriana Stern

In der Mitte des Lebens, wenn der Alltag schon eine Zeitlang Routine zu sein scheint, die zu erreichenden Ziele vorhersehbar und bescheiden geworden sind und sich deren Erfüllung auch nicht mehr ...




... so brennend wesentlich anfühlt, haben die ProtagonistInnen dennoch nicht aufgehört, Träume von einem besseren Leben in sich zu tragen und vorsichtigen Veränderungen in dieser Richtung mit klopfendem Herzen zu folgen.

Die Geschichte beginnt an einem Tag im November und endet im März des darauffolgenden Jahres. Durch einen Winter lang begegnen sich die Protagonisten mit ihren Gedanken, Gefühlen, Handlungen und zum Teil erlittenen Traumatisierungen. Sie überprüfen ihr Beziehungsgeflecht auf Stabilität und gleichzeitig auf Möglichkeiten verkraftbarer Veränderungen.

Dies geschieht nicht bewusst, dennoch mit wirkungsvoller Beharrlichkeit.
Es stehen vier ProtagonistInnen im Mittelpunkt, die aus der auktorialen Erzählperspektive beschrieben sind. Nur bei Bernd macht die Autorin eine Ausnahme und an einer Stelle auch bei Anton, denen sie die auktoriale Ich-Perspektive einräumt.

Die Geschichte beginnt damit, dass eine beinahe zwanzig Jahre währende Tradition im Leben der ProtagonistInnen verändert wird. Keine große Sache, denken sie anfangs. Die FreundInnen, die sich regelmäßig bei Alix Eltern zum Essen treffen, gehen erstmals mit ihnen zusammen in ein vietnamesisches Restaurant. Doch dieser kleine Schritt genügt, um anderen Perspektiven in dem Leben aller Raum zu geben. Indem sie sich für neue Möglichkeiten öffnen, begegnen ihnen diese plötzlich unmittelbar und unverhofft.

Gleichzeitig führt die Stimme von Bernd in das facettenreiche Beziehungsgebilde ein, das über die nächsten hundertdreißig Seiten Thema sein wird. Es ist gut, schon jetzt zu erfahren, dass Bernd Jan vor zwanzig Jahre in einer Kneipe kennengelernt hat, als seine Liebesbeziehung zu Lars gerade gescheitert war. Offensichtlich kann Jan Schwule nicht ausstehen und dennoch werden sie enge Freunde. Es gibt Parallelen in ihrem sowie dem Leben des dritten Freundes, Anton. Alle drei haben Medizin studiert, nur Bernd brach sein Studium ab und wurde Buchhändler, während Jan als Psychotherapeut arbeitet und Anton mit einem Freund eine Arztpraxis in Berlin eröffnet, wo alle leben und der Roman spielt.

Zu den drei Männern gehört, last but not least, Alix, die einzige Frau in dem Beziehungsgespann, die im Mittelpunkt steht und auf die sich die Männer sowie Alix Eltern hauptsächlich beziehen.

Bernd, Anton, aber auch Jan und Alix, bleiben kinderlos, genau wie Eleonore, die Frau von Bernds Bruder Hubertus, und Antons Schwester Caroline. Letztere lebt allein irgendwo in Italien, wo sie einen Biohof bewirtschaftet, während Eleonore und Hubertus in Dillenburg, einem Ort nahe Kassel, wohnen. Im Verlauf der Handlung bringt ausgerechnet Alix, der eine solche Fahrt nicht zugetraut wird, "Jan schaute sie erstaunt an, so war es aber immer, daß sie Dinge wußte, die man nicht für möglich gehalten hatte" Eleonores Puppe, ein Ersatz für ihr ungeborenes Kind, mit dem Zug zu ihr zurück und wird auf dieser Fahrt einmal mehr mit ihrem eigenen, unerfüllten Kinderwunsch konfrontiert.

Kinder spielen in diesem Buch eine wesentliche Rolle. Die, die nicht geboren werden genauso wie die, die gestorben oder auf andere Weise verschwunden sind und die, die den Protagonisten im Laufe dieses Winters begegnen.

Alix ist eine schwer zu durchschauende Frau, die in den ersten drei von zwölf Kapiteln lediglich aus den Blickwinkeln der anderen beschrieben wird. Diese anderen sind Anton, Bernd und Alix Ehemann Jan, sowie ihre Eltern Heinrich und Clara, die ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle in diesem Roman spielen und deren einzige Tochter Alix ist, nachdem der Bruder als Kleinkind in einem See ertrank, während seine Eltern sich im Garten liebten und dabei Alix zeugten.

Es ist von weiteren Traumatisierungen die Rede. Jan, der seine Eltern früh verloren hat und der sein gesamtes Leben auf Alix ausrichtet, und der ihren Kinderwunsch heftig ablehnt, ohne dass dies zwischen ihnen offen ausgesprochen ist. Oder Mai Linh, die in dem vietnamesischen Restaurant arbeitet und in die sich Heinrich verliebt. Ihre Tochter wurde vom Ehemann entführt und Mai Linh hat sie nie wieder gesehen. Steffen, ein Patient Jans, wurde in seiner Kindheit geschlagen. Er geht eine Beziehung zu Kim ein, der wiederum eine Beziehung zu Mai Linh wünscht, aber abgewiesen wird.

Und schließlich Alix selbst, die wegen des tragischen Todes ihres Bruders überbehütet aufwächst und schon als Kind über weite Entfernungen Stimmen hört. Es sind nicht nur die ihrer Eltern. Im Erwachsenenalter hört sie auch die Stimmen der Nachbarn oder die des Gemüsehändlers und seiner Familie, die auf der anderen Straße gegenüber zu finden sind. "Sie wusste, dass ein Teil der Stimmen nicht existierte. Das machte es anstrengender. Sie waren da, Stimmen, die murmelten, die bangten… da waren Stimmen, Geräusche, Laute. Sie konnte danach greifen in ihrem Kopf."

Die Freunde und die Eltern wissen mehr oder weniger um Alixs Fähigkeit, halten sie unter anderem deshalb für zu zart und zerbrechlich, nicht wirklich lebenstüchtig bis hin zu regelrecht verrückt. Insbesondere Jan traut Alix kaum etwas zu. Doch die Freunde reden in all den Jahren nicht über ihre Wahrnehmung. Bernd ist erschrocken, als Anton feststellt: "Alix fürchtet sich allenfalls vor zwei Menschen, vor ihrer Mutter und vor Jan..." und denkt weiter "...weil ich mir nie habe ausmalen können, daß Alix irgendwelche Empfindungen vor uns und mir verbirgt."

Erst zum Ende des Romans, als sich die Protagonisten erstmals gemeinsam begegnen, beginnen zarte Pflanzen neuer Perspektiven und Hoffnungen in ihnen zu wachsen, die das über viele Jahre erprobte Beziehungssystem verändern. "Ich versuchte, mir vorzustellen ... daß Jan und Alix nicht mehr der Mittelpunkt unseres Lebens waren, sondern nur noch ein Teil davon."

AVIVA-Tipp: Die Autorin erzählt die Geschichte mittels zwei voneinander unabhängig verlaufenden Parallelsträngen. Diese berühren sich an unterschiedlichen Punkten, teilweise verhaken sie sich auch ineinander, wie das komplizierte Muster eines kunstvoll gearbeiteten Teppichs. Damit eröffnet die Autorin auf zutiefst beeindruckende Weise neue Möglichkeiten, komplexe und kompliziert verschachtelte Perspektiven zahlreicher ProtagonistInnen anzulegen, weiterzuentwickeln und zu vertiefen. Sie erweitert die bisherigen Schreibdimensionen um eine neue.

So erzählt die Autorin parallel "an den Rand geschriebene" Mitten-Drin-Geschichten von Mitten-In-Unserer-Gesellschaft lebenden sogenannten Randgruppen, die von den Protagonisten unbemerkt Einfluss auf ihr Leben nehmen. Wie das Leben des Kneipenwirts Pedro etwa, der ermordet wird, weil er einen vietnamesischen Jungen schützt. Oder das Leben Mai Linhs und ihrer Brüder, das des Vietnamesen Kim, des Patienten Steffen oder des türkischen Gemüsehändlers Ahmed und seiner Familie.

Weil die Parallelgeschichten nicht dem Wunsch der Autorin gemäß tatsächlich parallel und in gleicher Schriftgröße abgedruckt wurden, gehen der Leserin möglicherweise wertvolle Inhalte verloren, die sich nur und gerade durch die gleichberechtigte Parallelität erschließen. Außerdem muss sich die Leserin zusätzlich immer wieder bewusst dem Eindruck widersetzen, die kleiner gedruckte Geschichte habe möglicherweise weniger Gewicht. Das hemmt den Lesefluss und erschwert das Verständnis. Es ist nicht akzeptabel, dass ein Verlag die von der Autorin vorgegebene, für die Vermittlung des Inhalts wesentliche Form, nicht übernommen hat. Hier wurde kurzerhand ein Drei-Gänge-Gourmet-Menü zum simplen Eintopf. Das ist ebenso schade wie unnötig!

Zur Autorin: Katharina Hacker wurde 1967 in Frankfurt am Main geboren und wuchs auch dort auf. In Freiburg und Jerusalem studierte sie Philosophie, Geschichte und Judaistik. Sie arbeitete mehrere Jahre in Israel und lebt seit 1996 als Autorin in Berlin. Ihr Roman Die Habenichtse wurde 2006 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. (Quelle: Verlag Suhrkamp)
Bisher veröffentlichte sie im Suhrkamp Verlag: "Der Bademeister", "Morpheus oder Der Schnabelschuh", "Baudelaire und die Gedächtniskunst", "Von den Schnecken", "Eine Art Liebe", "Die Habenichtse" und "Tel Aviv. Eine Stadterzählung". Weitere Infos und Kontakt: www.katharinahacker.de

Katharina Hacker
Alix, Anton und die anderen

Suhrkamp Verlag, erschienen: 16.11.2009
Gebunden, 125 Seiten
ISBN: 978-3-518-42127-7
19,80 Euro

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

"Eine Art Liebe" von Katharina Hacker.




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Beitrag vom 09.12.2009

AVIVA-Redaktion