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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 27.02.2010


Jhumpa Lahiri - Fremde Erde
Claire Horst

Die ProtagonistInnen der fünf Kurzgeschichten in diesem Band haben einiges gemeinsam: Sie alle sind bengalische ImmigrantInnen der zweiten Generation, leben in den USA und führen binationale ...




... Beziehungen.

Doch da hören die Gemeinsamkeiten, oberflächlich betrachtet, auch schon auf: Denn die Figuren sind Männer und Frauen, Berufstätige, Studierende oder Hausfrauen.

Ihrer Sammlung hat Lahiri ein Zitat des Schriftstellers Nathaniel Hawthorne vorangestellt: "Wird das Wesen des Menschen über eine allzu lange Folge von Generationen wieder und wieder in dieselbe Erde gepflanzt, kann es so wenig gedeihen wie eine Kartoffel." Die Migration kann diesem Stillstand neues Leben entgegensetzen.

Mit ihrem Migrationshintergrund gehen Lahiris Figuren höchst unterschiedlich um. Ruma, die Hauptfigur der Titelerzählung, ist mit einem US-Amerikaner verheiratet und mit ihrem zweiten Kind schwanger. Vor kurzem ist ihre Mutter gestorben. Ruma erinnert sich an sie als eine traditionsbewusste Bengalin, die gut kochen konnte, Saris trug und nie gearbeitet hat. Sie selbst hat ihrem Sohn nur ein paar Wörter Bengali beigebracht und wärmt gern Tiefkühlgerichte auf.

Als ihr Vater für ein paar Tage zu Besuch kommt, stellt Ruma fest, dass ihr Verhältnis sich gewandelt hat: Er macht ihr Vorwürfe, weil sie nur noch Hausfrau ist und sich von ihrem Mann abhängig macht. Dass er selbst eine neue Frau kennen gelernt hat, verrät er seiner Tochter nicht. Wie in dieser ersten Geschichte stehen in allen zwischenmenschliche Beziehungen im Mittelpunkt: Dinge, die verschwiegen werden, die zu nie ausgesprochenen Schuldgefühlen führen oder denen die ProtagonistInnen sich ausgeliefert fühlen.

Auch Usha, die Erzählerin der zweiten Kurzgeschichte, beschäftigt sich intensiv mit der Geschichte ihrer Mutter. Anders als die erste ist diese Geschichte in der Ichform erzählt, was die Gefühle der Erzählerin noch näher rücken lässt. Wie Rumas Mutter ist auch ihre als junge Frau verheiratet worden und hat mit ihrem Mann wenig gemeinsam. Dass ihre Mutter in den jungen Bengalen verliebt war, den sie selbst als Onkel betrachtet hat, realisiert Usha erst, als sie längst erwachsen ist. Für ihre Mutter war das Leben von Entbehrungen bestimmt.

Für ihre Eltern bleibt ihre bengalische Identität auch nach Jahrzehnten in Amerika zentral. Für das Kind Usha bedeutete das, auf Partys keine Jeans zu tragen, sondern den verhassten Shalwar Kameez. "Glaub ja nicht, dass du einen Amerikaner heiraten kannst, so wie Pranab Kaku mit seiner amerikanischen Frau", sagt ihre Mutter, die von der Heirat des jungen Mannes enttäuscht ist. Dass Usha in der Schule längst aufgeklärt worden ist, auf Partys Bier trinkt und mit Jungen knutscht, behält sie für sich.

Wie die Eltern sich im Alter doch noch lieben lernen, wie auch zwischen Usha und ihrer Mutter erst spät eine neue Vertrautheit entsteht, erzählt Lahiri sehr einfühlsam. Und auch ihre männlichen Figuren kämpfen mit ähnlichen Mustern, nämlich dem Konflikt zwischen dem Versuch, sich eine eigene Identität aufzubauen und der Prägung durch das Elternhaus. Amit, Redakteur, Hausmann, Vater zweier Kinder und mit einer Amerikanerin verheiratet, fährt mit seiner Frau zur Hochzeit seiner Jugendliebe und muss sich mit seinen widerstreitenden Gefühlen auseinandersetzen.

Lahiri baut in wenigen Sätzen eine eindringliche Atmosphäre auf. Scheinbar nebensächliche Details wie das Loch im Rock von Amits Frau, das ihr fast den Abend verdirbt und der Schokoladenrand an seinem Mund, auf den sie ihn hinweist, machen die Erzählung lebendig und lassen die Figuren zu wirklichen Menschen werden, die im Gedächtnis haften bleiben. Wie die meisten Erzählungen in dem Band endet auch diese versöhnlich, ein tragischer Beigeschmack - etwas zwischen den PartnerInnen ist unwiederbringlich zerstört worden - bleibt jedoch zurück.

Sudha, die Hauptfigur der vierten Geschichte, fühlt sich für das Alkoholproblem ihres Bruders verantwortlich. Die Verflechtungen der Familiengeschichte und die Fragilität auch sehr enger Beziehungen stellt Lahiri sensibel dar. Vielleicht die gelungenste Erzählung ist die letzte des Bandes. Paul lebt mit Heather und Sang in einer WG und ist heimlich in Sang verliebt. Ihre Beziehung zu einem geheimnisvollen Mann verfolgt er mit Sorge, will sich jedoch nicht einmischen. Aus seinen Augen verfolgen die LeserInnen, wie Sang sich immer tiefer in eine Beziehung verstrickt, die sie unglücklich macht. Paul wird zugleich zu einem Beispiel dafür, wie Menschen aus Angst und Zurückhaltung nicht das tun, was sie für richtig halten und auf ihr eigenes Glück verzichten. Wie alle ihrer Figuren ist auch er ein zutiefst sympathischer Mensch, den man gern im wahren Leben kennen lernen würde.

AVIVA-Tipp: Zwar haben Lahiris ProtagonistInnen allesamt einen bengalischen Hintergrund, der auch für ihre spezifische Lebenssituation verantwortlich ist. Dennoch sind die seelischen Konflikte, die sie beschreibt, viel allgemeingültiger. Unsicherheit, Liebeskummer, familiäre Probleme sind auf andere Zusammenhänge übertragbar - und das macht ihre wunderbar geradlinig erzählten Texte so besonders.

Zur Autorin: Jhumpa Lahiri wurde in London geboren und wuchs in Rhode Island auf. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Für ihre Romane und Erzählungen wurde sie u.a. mit dem Pulitzer Preis und dem PEN/Hemingway Award ausgezeichnet. Sie lebt in Brooklyn, New York. (Verlagsinformationen)

Die Autorin im Netz: www.randomhouse.com/kvpa/jhumpalahiri/

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Jhumpa Lahiri
Fremde Erde

rororo
Taschenbuch, 304 Seiten
Erscheinungsdatum: 01.03.2010
ISBN: 978-3-499-24839-9
12,00 Euro


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Beitrag vom 27.02.2010

Claire Horst