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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 16.07.2010


Oksan Svastics - Jüdisches Istanbul
Claire Horst

Wunderbare Bücher macht der kleine österreichische mandelbaum Verlag. Ein Beispiel dafür ist der schmale "city guide" aus der Reihe "Jüdisches Europa". Er beginnt mit dem Bericht der jüdischen ...




... Autorin Vivet Kanetti über ihre Kindheit in der Stadt.

Die Sprache der türkischen JüdInnen, das Ladino, ist für Kanetti das Hauptmerkmal des jüdischen Istanbuls. "Nichtjuden nannten diese Sprache jüdisch. Für die Juden wiederum hieß sie im Alltag und untereinander Spanisch... Es war eine gerettete Sprache, eine Sprache, die in den neuen Breiten so seltsam anmutete wie ein Pinguin mitten in Afrika... variantenreich, zerstückelt, aufgespalten und farbenfroh."

Aus Kanettis Erzählung wird die Vielfalt jüdischen Lebens in Istanbul deutlich. "Die Juden, die die Gegend um den Galata-Turm, Hasköy und Balat ... längst verlassen oder nie dort gelebt hatten, verachteten die Juden, die dort wie festgenagelt waren, die Familien, die bloß Fischer, Schneider, Kleinhändler und Strolche hervorbrachten, immer noch frei von Komplexen Ladino sprachen und die Lieder in dieser Sprache im Gedächtnis behielten, jene Juden ´aus dem Volke`, die mit dem Wandel nicht Schritt halten konnten...".

Derart auf das bunte jüdische Istanbul eingestimmt, erfährt die Leserin im Anschluss alles Wissenswerte über die Geschichte des Judentums nicht nur in Istanbul.

Seit 2400 Jahren leben Juden und Jüdinnen auf dem Gelände der heutigen Türkei, wie Ausgrabungen und alttestamentarische Hinweise belegen. Von einer einheitlichen jüdischen Bevölkerung konnte dabei noch nie die Rede sein - Svastics zeigt, dass sie sich schon in byzantinischer Zeit aufteilte: in Romanioten mit griechischen Namen und Karäer, die den Talmud ablehnten. Während des Osmanischen Reiches mit seiner Glaubensfreiheit blühte die Gemeinde auf, besonders bestärkt durch den Zuzug Zehntausender aus Spanien vertriebener Juden. Im 20. Jahrhundert bewirkte Atatürks Gründung der Republik und der damit einhergehende Staatslaizismus dann eine Auswanderungswelle, eine weitere folgte auf die Gründung Israels. Die Rolle der Türkei im 2. Weltkrieg schildert die Autorin in einem eigenen kleinen Kapitel.

Sehr kompakt und informativ beschreibt sie die von Migrationen bestimmte Geschichte der türkischen JüdInnen und erzählt die türkische Geschichte dabei gleich mit. Ihr Fazit: "In der Türkei gibt es heute zirka 24.000 Juden, die, wie ein türkischer Intellektueller es formulierte, `nicht in einem physischen, sondern in einem sozialen Ghetto` leben" - sie sind unsichtbar. Um so wichtiger ist es, dass man sich nun auf die Spuren ihrer Geschichte begeben kann.

Dazu bietet sich der zweite Teil des Buches an, ein klassischer Stadtführer, der nach Regionen aufgeteilt ist und jeweils auch deren historische Entwicklung schildert. Fotos und Zeichnungen illustrieren die Texte und machen Lust, sofort loszufahren und die Stadt zu durchforsten. Viele Orte - Synagogen, Krankenhäuser, Wohnhäuser prominenter JüdInnen, Verlage - sind dabei mit Adresse angegeben. Etwas schade allerdings, dass keine Karten enthalten sind, auf denen etwa der jeweilige Rundgang eingezeichnet wäre. Ihre Spurensuche muss die Leserin sich selbst zusammenstellen.

Sehr hilfreich ist das Glossar, das nicht nur Begriffe aus der jüdischen Tradition, sondern auch aus der türkischen Architektur umfasst. Im Anhang befindet sich ein Adressverzeichnis, das sehr aufschlussreiche Informationen über den Zustand der jüdischen Gemeinden liefert. So sind zwei Altersheime und neun Friedhöfe, jedoch nur zwei koschere Restaurants und ein Sportverein verzeichnet.

AVIVA-Tipp: "Jüdisches Istanbul" ist ein wunderbarer Reiseführer - neben den Spuren jüdischer Geschichte lässt sich ganz nebenbei vieles Wissenswerte über Stadtgeschichte, Kultur und Gesellschaft erfahren.

Zur Autorin: Okºan Svastics, geboren in Ankara, ist seit 1987 Journalistin, Redakteurin, Herausgeberin sowie Korrespondentin für zahlreiche türkische und internationale Zeitschriften, Magazine und Verlage. Sie lebt seit sechs Jahren in Wien.

Oksan Svastics
Jüdisches Istanbul

Aus dem Türkischen von Monika Demirel
mandelbaum verlag, erschienen 2010
216 Seiten, broschiert
19,90 Euro
ISBN: 978385476-329-1

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Beitrag vom 16.07.2010

Claire Horst