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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 24.07.2010


Anne Dorn - Spiegelungen
Sabine Grunwald

Anne Dorn fängt in ihrem neuen Roman "Spiegelungen" die Bandbreite eines ganzen Jahrhunderts am Beispiel von fünf weiblichen Figuren, Minza, Lene, Hanna, Judith und Clara ein




Die Erzählung beginnt mit der achtjährigen Minza, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, wechselt zu der jungen Lene, die sich im verwüsteten Nachkriegsdeutschland durchschlagen muss, erzählt Hannas Geschichte in den 1950er Jahren, die mit ihren drei Kindern vor dem gewalttätigen Ehemann Stefan flüchtet. Judith, die sich endlich entschließt, ihren eigenen Bedürfnissen und nicht immer nur denen ihrer Kinder nachzugehen, Clara, die mit Mitte fünfzig endgültig den Entschluss umsetzt, sich von dem Alkoholiker Anselm zu trennen.
Anne Dorn durchschreitet mit ihren Heldinnen die Zeit, gibt einige Eckpunkte zur Orientierung, doch verzichtet auf allzu genaue zeitliche und örtliche Angaben.

Das Faszinierende am ihrem Schreibstil ist die exakte Beobachtungsgabe und Hingabe an ihre Figuren, sie findet die richtigen Worte für die knapp gehaltenen Erzählungen und schafft es, das Innenleben und die Konflikte ihrer Heldinnen wahrhaftig zu beschreiben, so etwa, als die junge Minza nicht versteht, was an Bord des Schiffes mit ihrer Mutter passiert ist:

"Minzas Mutter lag hier in braune Decken gewickelt auf einer Bank. Das schreckliche Blau war fort. Sie lächelte…Wieder hatte Minza Scheu, zu ihr hinzugehen, dachte, sie dürfe das auf gar keinen Fall...Schnell beugte sich Minza vor, gab ihr einen Kuss."
Hanna, die die Trennung geschafft hat und mit ihren Kindern in eine andere Stadt gezogen ist: "Aus dem Damals erreicht Hanna ab und an Post. Auf dem Briefkopf stehen Namen und Anschrift eines Anwalts. Darunter dann merkwürdige sich wiederholende Texte. Beschimpfungen verlieren bei Wiederholungen ihre Kraft, besonders auf dem Postweg. Sie verlieren das Körperhafte, der Zugriff fehlt."

Die einzelnen Episoden sind locker miteinander verbunden, und obwohl die einzelnen Geschehnisse scheinbar zu keinem Ziel führen, macht Anne Dorns Erzählkunst daraus eine Geschichte des Lebens.

Das letzte Kapitel trägt einen Fantasienamen, der alle vorherigen in sich vereint. Es geht um Bindungen die scheitern, um das Alleinsein, das Älter- und das Altwerden und endlich das Sterben. Zwei alte Frauen versuchen sich näher zu kommen. In ihrer klaren und direkten Sprache lässt Anne Dorn ihre Heldinnen heranwachsen, von der jungen Frau, zur Partnerin, der Mutter – der alten Frau. Jeder Lebensabschnitt ist eine Metamorphose. Der Reiz von Spiegelungen besteht in der Aufrichtigkeit, mit der Anne Dorn ihre Figuren agieren lässt.

Zur Autorin: Anne Dorn geboren 1925 in Wachau bei Dresden. Lebt seit 1969 als freie Schriftstellerin in Köln. Aufenthalte in New York, Paris, Amsterdam, Budapest, Rom, Moskau, Warschau und Krakau. Veröffentlichungen: "hüben und drüben". Mit einem Vorwort von Lew Kopelew. Roman. Leipzig 1991. "Geschichten aus tausendundzwei Jahren". Roman. Leipzig 1992. "rübergemacht". Schauspiel. 1992. "Damals als die Sonne schien". Novelle. "Hellerau", 1996. "Siehdichum", Roman. 2007. Zahlreiche Erzählungen und Gedichte in literarischen Zeitschriften und Anthologien seit 1967. Hörspiele, Hörfunkfeatures, seit 1965. Multimediaprojekte mit Luc Ferrari, Paris und Hingstmartin, Köln 1970-1975. Spielfilme für das Fernsehen in eigener Regie, 1973-1978 (Quelle: Verlagsinformation).


AVIVA-Tipp: Spiegelungen umfasst ein ganzes Menschenleben durch die Beschreibung unterschiedlicher Lebensphasen. In dem Roman liegt die ganze Bandbreite an Erfahrung und Weisheit der 1925 geborenen Schriftstellerin. Ihr präziser, knapper Stil und ihre poetische Sprache machen das Buch zu einem einzigartigen Lesevergnügen.

Anne Dorn
Spiegelungen

Dittrich Verlag, erschienen März 2010
240 Seiten, Gebunden
ISBN 978-3-937717-42-5
19,95 Euro

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Beitrag vom 24.07.2010

Sabine Grunwald