AVIVA-Berlin >
Literatur
AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 -
Beitrag vom 24.11.2010
Nelly Sachs - Werke, Band IV
Claire Horst
Mit der kommentierten Gesamtausgabe der Texte von Nelly Sachs ist das Werk der Nobelpreisträgerin endlich einem breiten Publikum zugänglich gemacht worden. Nach den ersten Bänden, die Sachs´ ...
... Gedichte enthalten, sind im vierten Band nun ihre Prosatexte nachzulesen.
Neben Übersetzungen aus dem Schwedischen - nach Schweden waren die jüdische Dichterin und ihre Mutter 1940 aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohen - sind das Reden und vor allem Tagebucheintragungen, die meisten davon bisher unveröffentlicht. Welchen Einschnitt der Verlust der eigenen Sprache für die Dichterin bedeutete, welche tiefen Verletzungen die Flucht mit sich brachte, geht aus ihren Texten hervor:
"Ich lebe ja ganz zurückgezogen in Schweden. Ich hatte ja gar keinen Zugang zu der neuen deutschsprachigen Dichtung. War darin ganz auf mich angewiesen. Meine Sprache... - Wenn ich so sagen darf: so hat mir diese wirklich der Tod geschenkt."
Der Tod ihrer Mutter, die Hinwendung zur Religion und die Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition durchziehen ihre Notizen ebenso wie das Trauma des Holocaust. Dass es die erlebten Verletzungen waren, die zu Sachs´ späterer psychischen Erkrankung führten, wird ganz deutlich in ihren Tagebuchnotizen:
"Ich habe auch Angst. Vielleicht mehr als alle. Aber ich muss doch immer in das Leiden blicken. Am meisten dann, wenn gesungen und getanzt wird. ... Wenn ich nur schnell sterben dürfte. Alles was ich mir wünschte auf Erden ging in Erfüllung. Aber auf eine geheime Weise so, wie ich es nicht meinte, grade so, wie ich es am meisten fürchtete, grade auf dem Höhepunkt der Qual."
Der Todeswunsch kehrt immer wieder in diesen Aufzeichnungen. Die sprachliche Schönheit, die Nelly Sachs´ Gedichte ausmacht, die sprachgewaltigen und treffsicheren Formulierungen sprechen von ihrer Qual, von ihren Verletzungen. In ihren eigenen Worten, im Mai 1965 notiert, umfasst ihr Leben "Verfolgung - Krankenhaus - Verfolgung - Krankenhaus." Die Dichterin fühlt sich weiterhin verfolgt, kann dem aus Deutschland mitgenommenen Gefühl der Bedrohung nicht entkommen, nur in der klinischen Narkose findet sie Ruhe. "Und alles weil ich über das Martyrium meines Volkes geschrieben habe. Alles darum. Und der Gastod mich nicht erreicht hatte, so dehnte man den lebendigen Tod aus: Jahrelang."
Eine Rettung bedeutete für Nelly Sachs, die aus der eigenen Sprache vertrieben war, die Auseinandersetzung mit der schwedischen Sprache.
"Es liegt mir viel daran, die schwedische Lyrik in der Welt bekannt zu machen. Das ist nicht nur Dankespflicht. Es ist mir eine Herzenssache." Trotzdem bleibt sie eine deutschsprachige Dichterin: "Ich empfinde mich nicht als zweisprachig. Im Gegenteil war die deutsche Sprache für mich die Heimat, die ich mitnehmen durfte. Böses und Gutes, mein ganzes Leben, ist mit dieser Sprache verknüpft, und meine Übersetzungen aus dem Schwedischen gelangten wieder in die Heimatsprache."
Der Einfluss der modernen schwedischen Lyrik auf ihre eigene Dichtung ist dennoch nicht zu übersehen, wie der Herausgeber Aris Fioretos bemerkt. Sachs´ Schreiben veränderte sich durch diesen Kontakt, nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Form. "Jetzt bin ich dabei, in dramatischer Form auszusagen, was in Lyrik nicht mehr gefasst werden kann", schreibt sie um 1960. Schwedische Lyrik hat für Sachs etwas Exstatisches, etwas, das ihr hilft, sich aus dem Trauma zu erheben. In ihr findet sie die Erschütterung der Welt ausgedrückt, die der Zweite Weltkrieg und der Holocaust bedeutet haben, findet sie die Verlorenheit des in die Bedeutungslosigkeit geschleuderten Menschen ausgedrückt.
Sachs´ Übertragungen der Lyrik und Prosatexte erlauben einen Einblick in die Welt der schwedischen modernen Literatur, die auch heute noch im deutschsprachigen Raum nicht die verdiente Beachtung erhalten hat. Sachs´ Anmerkungen zu den einzelnen DichterInnen, die sie für Anthologien übersetzt hatte, zeigen, wie intensiv sie sich mit dieser literarischen Welt auseinandergesetzt hat, dass Literatur für sie tatsächlich eine Welt war, in der sie lebte und atmete. Ihre liebsten schwedischen DichterInnen sind diejenigen, die "dieses `Heute` mit einer neuen `entsetzten` Sprache wiedergeben, die oft auch eine schreckliche Schönheit zeigt". Diese "Entsetztheit", diese neue Sprache hat auch auf Nelly Sachs´ eigene Werke abgefärbt.
AVIVA-Tipp: Sowohl zu Person und Werk Nelly Sachs` als auch zur schwedischen Literatur des 20. Jahrhunderts bietet der reich kommentierte Band viel Wissenswertes.
Zur Autorin: Nelly Sachs wurde am 10. Dezember 1891 als Leonie Sachs in Berlin geboren. Mit 17 Jahre begann sie Gedichte zu schreiben, die seit Anfang der 20er Jahre in Zeitschriften erschienen. In den 30er Jahren setzte sie sich in ihren Werken mit dem Faschismus in Deutschland und mit jüdischen Traditionen auseinander. 1940 flohen sie und ihre Mutter mit Hilfe von Selma Lagerlöf nach Schweden, wo Nelly Sachs bis zu ihrem Tod 1970 lebte und arbeitete, unterbrochen von Sanatoriumsaufenthalten.
1965 erhielt sie den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, ein Jahr später zusammen mit dem israelischen Schriftsteller Josef Agnon den Nobelpreis für Literatur. Nelly Sachs starb am 12. Mai 1970 in Stockholm.
Weitere Informationen unter: www.nelly-sachs.de, www.nellysachs.com
Nelly Sachs
Werke. Kommentierte Ausgabe Band IV
Prosa und Ãœbertragungen
Herausgegeben von Aris Fioretos
Suhrkamp Verlag, Erscheinungsdatum: 11.10.2010
Leinen, 674 Seiten
ISBN: 978-3-518-42190-1
54 Euro
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Aris Fioretos - Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin Berlin und Stockholm
Wie würde ich ohne Bücher nur leben und arbeiten können, Privatbibliotheken jüdischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Ines Sonder, Karin Bürger, Ursula Wallmeier
150. Geburtstag von Selma Lagerlöf am 20. November 2008