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Beitrag vom 03.04.2008
Helen Levitt – Fotografien 1937-1991
Kristina Tencic
Spielende Kinder, gelangweilte Erwachsene, ruhende Alte – jedes der Bilder Helen Levitts mutet an wie Poesie, dabei zeigen sie eigentlich nur den Alltag auf den ärmlichen Straßen New Yorks.
Vier Kinder laufen eine Straße neben einer scheinbar endlosen Steinmauer entlang. Ein Mädchen trägt kein T-Shirt, wodurch man ihren dünnen Oberkörper sieht. Die drei anderen Kinder tragen Kleidchen. Alle vier schauen gebannt einigen Seifenblasen hinterher, und man hat das Gefühl, dass es sich bei diesen wenigen Seifenblasen um das Schönste und Faszinierendste für die vor dem tristen Hintergrund stehenden Mädchen handelt. Wie gebannt laufen sie den Bläschen entgegen. Es sind drei Afro-Amerikanerinnen und ein hellhäutiges Mädchen. Eigentlich wäre dies nicht weiter bedeutend, doch wenn man bedenkt, dass die Fotografie im Amerika der fünfziger Jahre aufgenommen wurde, bekommt dieses Bild eine andere Bedeutungsebene.
Die Fotografie stammt von einer der bekanntesten amerikanischen Fotografinnen des 20. Jahrhunderts, Helen Levitt. Die Jüdin mit russischen Wurzeln zählt zu den Pionierinnen der Street Art Photography und ist heute in jedem Fotografie-Standard-Werk vertreten.
Die junge Helen Levitt brach ihre Schule ab und begann eine Lehre bei einem New Yorker Portraitfotografen. Durch ihn lernte sie 1935, mit 22 Jahren, Henri Cartier-Bresson kennen. Er nahm sie mit auf seine Streifzüge durch die Straßen New Yorks, jenseits der noblen Fifth Avenue. 1936 kaufte sie sich eine gebrauchte Leica und begann damit, eigene, als Schnappschuss anmutende Fotos zu machen. Durch Henri Cartier-Bresson lernte sie, die Menschen in Spanish Harlem und Lower East Side im "entscheidenden Moment", wie er es nannte, festzuhalten. Walker Evans, der berühmte Portraitfotograf, den sie 1936 als Freund gewann, wies sie an, keine Politik in ihre Bilder zu lassen. Daran hat sie sich, im Gegensatz zu ihm, auch gehalten.
Jedes ihrer Bilder erzählt eine ganze Geschichte, die zwar die Verelendung des Viertels zeigt, aber niemals bewertet, sondern subtil dokumentarisch und mit einem teils ironischen, teils grotesken Flair auf die Menschen blickt. Sie drückt eben einfach im "entscheidenden Moment" ab und gibt den BetrachterInnen dadurch das Gefühl, mitten in New York zu stehen, die Abgase zu atmen und ziellos Menschen auf den verstaubten Straßen zu beobachten. Einmal sind es Kinder beim Spielen, oder Arbeiter bei ihrer Mittagspause, und auch Alte beim Plausch auf der Straße, oder eine beleibte Mutter mit ihren Kindern in einer Telefonzelle – gemeinsam ist den Aufnahmen, dass die Portraitierten zwar in ihrem Umfeld fotografiert wurden, aber dennoch seltsam aus dem Zusammenhang gerissen wirken. Die Fotografie zeigt zugleich die öffentliche und persönliche Facette der Portraitierten, dadurch lässt sich erahnen, welche Vergangenheiten die Fassaden der Häuser und Menschen verbergen.
Die Geschichten der abgelichteten Menschen sind so vielfältig wie das Leben selbst: Sie erzählen von Liebe, Freundschaft, Streit, Langeweile, Verlorenheit und vielen Sehnsüchten. Es ist somit eine fotografische Milieustudie, die mit Gegensätzen wie jung/alt, klein/groß, arm/reich, dick/dünn und Schwäche/Stärke spielt. Einzig die Komposition des Bildes vermag es, all die Gegensätze in einem schwarz-weißen oder farbigen Bild festzuhalten.
Von der Motivation des/r Betrachters/in, die Bilder in einen narrativen Kontext zu stellen, hält die heute 94-Jährige Künstlerin wenig. Sie sagt, dass sie Schriftstellerin und nicht Fotografin geworden wäre, wenn sie über ihre Fotografien sprechen wollen würde. Somit ist auch der umfangreiche Bildband "Helen Levitt - Fotografien" sehr wortkarg ausgefallen. Bis auf einige wenige einleitende Sätze durch Walker Evans ist in dem Begleitkatalog zu der Spectrum-Ausstellung im Sprengel Museum in Hannover (vom 10.02. – 25.05.2008) infolgedessen auch kein Text zu finden. Unter den über 100 Fotografien des Bildbandes lassen sich auch aus ihrem Oeuvre bisher unveröffentlichte Werke finden.
AVIVA-Tipp: Die ausgewählten Aufnahmen zeigen die Ikone des "Antijournalismus", Helen Levitt, in ihrer Gesamtbedeutung für die Geschichte der Fotografie. Die Bilder laden den/die BetrachterIn dazu ein, den abgebildeten Menschen ihre Geschichten zu entlocken, sich von Seite zu Seite überraschen zu lassen und wieder von Neuem zu entdecken. Zwar hätte frau/man sich zumindest kurze biografische Angaben und einige ergänzende Erklärungen gewünscht, doch bei Fotografien, die selbst mehr erzählen, als man je in Wörtern artikulieren könnte, ist das vielleicht auch gar nicht nötig.
Zur Fotografin: Helen Levitt wurde 1913 in New York geboren. Sie verließ die Schule kurz vor ihrem Abschluss und ging bei einem New Yorker Portraitfotografen in die Lehre, durch welchen sie Henri Cartier-Bresson und Walker Evans kennen lernte. Bereits im Jahre 1943 hatte sie eine Einzelausstellung im Museum of Modern Art. Zu dieser Zeit fing sie an, bei Filmen mitzuarbeiten und später auch zu drehen. Ihre Arbeiten "In the Street" und "The Quiet One" gingen in die Filmgeschichte ein. 1959 begab sie sich mit ihrer Kamera wieder auf die Straßen New Yorks. Ihre Arbeiten wurden weltweit ausgestellt, 1997 auch auf der documenta x und befinden sich, zusammen mit Bildern von Walker Evans und Henri Cartier-Bresson im MoMA. Das Sprengel Museum zeigt die bisher umfangreichste Ausstellung ihrer Werke. Anlass hierzu ist die Verleihung des Internationalen Preises für Fotografie der Stiftung Niedersachsen an die Künstlerin. Die in New York lebende Helen Levitt zählt zu den Pionierinnen der Street Photography.
(Quellen: Verlagsinformationen, spiegel.de, sprengel-museum.de)
Helen Levitt – Fotografien 1937-1991
Text von Walker Evans
Hatje Cantz Verlag, erschienen März 2008
Gebunden, 168 Seiten, 142 Abbildungen, 70 farbig
ISBN 978-3-7757-2169-1
49,80 Euro