Judith Mackrell - Die Flapper. Rebellinnen der wilden Zwanziger - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Biographien



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 26.09.2022


Judith Mackrell - Die Flapper. Rebellinnen der wilden Zwanziger
Silvy Pommerenke

Die "Goldenen Zwanziger" waren ein Jahrzehnt des Umbruchs, der Befreiung und der wilden Partys. Sie waren auch die Geburtsstunde der "Flapper", der neuen rebellischen Frau, deren Kennzeichen kurze Haare, kurze Röcke und das Rauchen in der Öffentlichkeit waren. Die britische Tanzkritikerin und Autorin Judith Mackrell hat sechs von ihnen portraitiert.




Durch den Ersten Weltkrieg wurden die traditionellen Geschlechterrollen aufgehoben: die Männer kämpften an der Front, und die Frauen übernahmen zu Hause die Arbeitsstellen und Berufe ihrer Männer, Verlobten, Brüder, Söhne und Väter. Für viele Frauen änderte sich damit auch das Selbstverständnis von sich als Frau. Sie nahmen sich endlich das Recht heraus, so zu leben wie sie wollten, sie wählten ihre Sexualpartner*innen selbst aus, verdienten ihr eigenes Geld, die Haare und Kleider wurden immer kürzer, und sie rauchten in der Öffentlichkeit. Die "Flapper" waren geboren. Der etymologische Ursprung des Namens ist nicht ganz klar, vermutlich bezieht er sich auf Jungvögel, die flatternd aus ihrem Nest ausbrechen wollen.

Judith Mackrell, deren lesenswertes Buch "Der unvollendete Palazzo – Liebe, Leidenschaft und Kunst in Venedig" über die Millionenerbin und Mode-Ikone Luisa Casati und die Kurtisane Doris Castlerosse ins Deutsche übertragen und im September 2019 veröffentlicht wurde , zeichnet erneut die Lebenswege von unterschiedlichen Frauen nach, um sich einer gesellschaftlichen Erscheinung anzunähern. Was die Flapper miteinander verband, war nicht nur ein Leben jenseits von Ehe und Mutterschaft (meistens jedenfalls), sondern ihr Trotz und die Aufsässigkeit gegenüber der Gesellschaft und dem Brechen von Traditionen, sodass sie vom Establishment regelrecht als gesellschaftliche Bedrohung angesehen wurden. Der Hype um die Flapper war allerdings nur von kurzer Dauer, denn bereits Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre flaute das Phänomen ab, abgelöst durch die Wirtschaftskrise, den politischen Extremen des Kommunismus´ und Faschismus´ sowie dem Zweiten Weltkrieg, der vor der Tür stand.

In "Die Flapper – Rebellinnen der wilden Zwanziger" werden sechs Frauen näher vorgestellt, die überwiegend aus der gehobenen gesellschaftlichen Schicht stammten. Politische Ambitionen hatten sie in der Regel nicht und verstanden sich – anders als die Suffragetten - auch nicht als Feministinnen, wie. Eher im Gegenteil. Sie machten sich über ihre kämpferischen Schwestern lustig und feierten stattdessen rauschende Feste mit viel Alkohol, Drogen und der obligatorischen Zigarette nebst Spitze, damit sich an den geschminkten Lippen kein Tabakkrümelchen festsetzte. Wollte man es mit einem heutigen Phänomen vergleichen, so ähnelten sie weniger den Riot Grrrls oder den Friday for Future Aktivistinnen, sondern wohl eher den Influencer*innen aus dem Internet. Aber auch dieser Vergleich hinkt, denn es ist fraglich, ob sich in einhundert Jahren noch irgendjemand an diese erinnern wird. Der Bekanntheitsgrad der von Mackrell ausgewählten "Flapper" war in den 1920er Jahren aber mindestens ebenso groß, wie es heutige It-Girls à la Paris Hilton oder die Kardashians sind. Und auch damals stürzte sich die Klatschpresse auf die Skandale und Sensationen, die dieser illustre Kreis heraufbeschwor und trug die Geschichten in die Welt hinaus.

Die US-amerikanische Pulitz-Preisträgerin Edna St. Vincent Millay brachte das Lebensgefühl der Flapper in einem ihrer Gedichte auf den Punkt:

"Meine Kerze brennt an beiden Enden
Sie dauert nicht die Nacht
Aber ah, meine Feinde, und oh, meine Freunde
Ein schönes Licht sie macht".


Der Ursprung für die Entwicklung der sogenannten Flapper lag unter anderem darin, dass sie gegen ihre Mütter rebellierten. Sie zerbrachen das enge gesellschaftliche Korsett, das ihnen aufgedrückt wurde und lebten stattdessen wild und ungestüm. Die adlige Britin Nancy Cunard steht stellvertretend für diese Rebellion: sie drückte sich vor ihren Verpflichtungen als Debütantin, begehrte gegen die Oberschicht auf, wandte sich der Bohème zu und wurde zur Publizistin, Dichterin und Verlegerin. Im Gegensatz zu den meisten anderen Lifestyle-Ikonen dieser Zeit war sie auch politisch aktiv und setzte sich gegen Rassismus und Faschismus ein, war eine engagierte Feministin und eine der ersten Frauen, die sich einen Bubikopf schneiden ließ.

Aber auch die Folgen des Ersten Weltkriegs führten zu einem Veränderungsprozess. Die jungen Frauen waren davon zutiefst erschüttert. Sei es, dass sie Tote unter ihren Angehörigen und Freunden zu beklagen hatten, dass Städte wie London bombardiert wurden, oder, im Fall der englischen Aristokratin und späteren Schauspielerin Diana Cooper, die sich (gegen den Willen ihrer Eltern) als Krankenschwester um verwundete und traumatisierte Soldaten kümmerte. Als Resultat wurden umso mehr das Leben und die Partys gefeiert. Diana Cooper galt als Salonlöwin, ohne die eine Feier keine Aussicht auf Erfolg hatte. Während die meisten im Buch vorgestellten Frauen nach Europa beziehungsweise nach London und Paris zogen, ging Diana Cooper der Schauspiel-Karriere wegen in die USA.

Zu den Rebellinnen die Judith Mackrell in ihrem Buch vorstellt, zählt auch die begnadete Malerin des Art déco, Tamara de Lempicka. Sie strandete ebenfalls in Paris und gehörte schnell den künstlerisch-intellektuellen und lesbischen Kreisen an. Auch die US-amerikanische Schauspielerin Tallulah Bankhead und Zelda Fitzgerald zog es nach Europa. Zelda Fitzgerald genoss bereits Kultstatus aufgrund ihres ausufernden Partylebens, aber auch, weil der Roman "Diesseits vom Paradies" ihres Ehemannes F. Scott Fitzgerald - der die Flapper literaturfähig machte und stark autobiographische Züge hatte -, über Nacht zum Verkaufsschlager wurde.

Josephine Baker darf bei diesen Portraits natürlich nicht fehlen, auch wenn sie im Gegensatz zu den anderen hier porträtierten Frauen aus der unteren Gesellschaftsschicht stammte. Sie kam 1925 nach Paris, um die Herzen der Pariser*innen im Sturm zu erobern und blieb für den Rest ihres Lebens in der Stadt an der Seine.

Die wilden und ungestümen Frauen der 1920er Jahre haben maßgeblich zu der Frauenbewegung geführt, wie wir sie heute kennen. Judith Mackrell endet mit einem zukunftsweisenden Satz: "Diana, Nancy, Tamara, Tallulah, Zelda und Josephine gehörten einer Generation der Andersdenkenden an und schreckten nicht davor zurück, überall anzuecken. Ihre Forderungen und ihre Kämpfe sind auch heute noch aktuell und setzen einen Standard, an dem sich unsere eigenen Errungenschaften messen lassen."

AVIVA-Tipp: Aus dem Material von zahlreichen Biographien und zeitgenössischen Romanen entwickelt Judith Mackrell ein schillerndes Portrait der "Goldenen Zwanziger" und deren Protagonistinnen, die sich wild, unangepasst und voller Lebenslust in ihre Abenteuer stürzten. Mit von der Partie sind Josephine Baker, Diana Cooper, Tallulah Bankhead, Nancy Cunard, Zelda Fitzgerald und Tamara de Lempicka.

Zur Autorin: Judith Mackrell studierte Englische Literatur und ist eine der wichtigsten Tanzkritikerinnen Großbritanniens (für The Independent, The Observer und für The Guardian) und Autorin mehrerer Bücher, darunter die Biographie der russischen Ballerina Lydia Lopokova, die 2008 für den Costa Biography Award auf der Shortlist stand. 2019 beleuchtete sie in "Der unvollendete Palazzo – Liebe, Leidenschaft und Kunst in Venedig" die Geschichte des sagenumwobenen Gebäudes, das Peggy Guggenheim Mitte des letzten Jahrhunderts zum Museum ausbaute, und das in den 1910er Jahren von der Millionenerbin und Mode-Ikone Luisa Casati und von der Kurtisane Doris Castlerosse zu einem Treffpunkt der internationalen Künstler*innen und der High Society gemacht wurde.
Judith Mackrell tritt häufig im TV und im Radio auf und Mitautorin des Oxford Dictionary of Dance. Sie lebt mit ihrer Familie in London.

Judith Mackrell im Netz: Auf Twitter und auf Instagram

Judith Mackrell - Die Flapper - Rebellinnen der wilden Zwanziger
Originaltitel: Flappers. Six Women of a Dangerous Generation
Ãœbersetzt von Susanne Hornfeck und Viola Siegemund
Insel Verlag, erschienen 06/2022
Gebunden, 624 Seiten
ISBN 978-3-458-64290-9
Euro 28,00

Mehr zum Buch unter: www.suhrkamp.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Judith Mackrell – Der unvollendete Palazzo – Liebe, Leidenschaft und Kunst in Venedig Beleuchtet wird die Geschichte des sagenumwobenen Gebäudes, das Peggy Guggenheim Mitte des letzten Jahrhunderts zum Museum ausbaute, und das in den 1910er Jahren von der Millionenerbin und Mode-Ikone Luisa Casati und von der Kurtisane Doris Castlerosse zu einem Treffpunkt der internationalen Künstler*innen und der High Society gemacht wurde. Eine Spurensuche auf AVIVA-Berlin. (2019)

Zelda Fitzgerald - Himbeeren mit Sahne im Ritz. Erzählungen
Zelda Fitzgerald war eine vielseitige Künstlerin. Doch ihr Ehemann F. Scott Fitzgerald, jähzornig und alkoholkrank, ertrug ihre Begabung nicht und versuchte mit aller Gewalt ihre Kreativität zu unterdrücken. Während Zelda daran zerbrach, legen ihre Geschichten heute Zeugnis ab für ihre kreative Kraft, mit der sie den Träumen und Hindernissen ihrer Zeitgenossinnen in den 20er Jahren ein Denkmal setzt. (2017)

Gabriele Tergit - Käsebier erobert den Kurfürstendamm
Als der Volkssänger Käsebier 1931 zum Megastar wird, ist Berlin ist eine aufregende und dynamische Stadt, eine Stadt vieler Kulturen und Identitäten. Der satirische Gesellschaftsroman der als Elise Hirschmann geborenen Schriftstellerin und Gerichtsreporterin erschien 1931 erstmals im Rowohlt Verlag. In den Folgejahren wurde das Werk über das Berlin der späten Weimarer Republik in verschiedensten Verlagen veröffentlicht, geriet schließlich in Vergessenheit, bevor er nun, im Frühjahr 2016, im Schöffling Verlag von Nicole Henneberg herausgegeben und mit einem Nachwort versehen wurde. (2016)

Birgit Haustedt - Die wilden Jahre in Berlin. Eine Klatsch- und Kulturgeschichte der Frauen
Salonnières, Rennfahrerinnen, Künstlerinnen und Provokateurinnen aus Überzeugung prägten die weibliche Topografie Berlins in den 1920er Jahren. Valeska Gert, Vicki Baum, Dora Benjamin und andere Freigeister dekonstruierten gängige Frauenbilder - bis der Nationalsozialismus sie von der Bühne verbannte. (2013)

Die Königin der Revue - Mit Joséphine Baker Durch schablonencolorierte Originalaufnahmen des französischen Varietétheaters Folies-Bergère lässt der Stummfilm tief in die Zeit der Goldenen Zwanziger Jahre blicken. (2006)


Literatur > Biographien

Beitrag vom 26.09.2022

Silvy Pommerenke