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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 18.11.2008


Regina Dieterle - Die Tochter. Das Leben der Martha Fontane
Yvonne de Andrés

Sie war die Hauptperson und Quelle der Inspiration im Leben ihres Vaters Theodor, aus dessen Bannkreis sie nicht entfliehen konnte. Die erste umfassende Biografie liegt jetzt vor.




"Marthas erstes Lebensjahr war, so scheint es, glücklich. Sie war der Mittelpunkt der Familie" so beschreibt Regina Dieterle Martha Fontanes Eintritt in die Familie. Martha, die lang ersehnte Tochter (nach fünf Jungen) wurde "Vaters Liebling" und die wichtigste literarische Gesprächspartnerin von Theodor Fontane.

Trotz materieller Einschränkungen wuchs "Mete", wie sie liebevoll genannt wurde, in einem literarisch-künstlerischen Milieu auf. Sie erhielt eine Ausbildung als Hauslehrerin, spielte Klavier und wurde liberal erzogen. Die Fontanes wohnten in der Potsdamer Strasse, damals noch vor den Toren Berlins. Hier war es ruhig und die Mieten waren erschwinglich. Im Hause Fontane verkehrten viele Intellektuelle: der Maler Adolf Menzel, die Schriftsteller Paul Heyse und Gerhart Hauptmann sowie die Schauspielerin Paula Schlenther-Conrad. Es sind die FreundInnen des Vaters, die auch bald die FreundInnen der Tochter werden. Anregende Gespräche finden beim nachmittäglichen Tee oder zum Abendessen statt. Adelige und neue Industrielle, wie z.B. die Chemikerfamilie Witte aus Rostock, besuchen die Fontanes. Friedrich Witte, ein Freund Fontanes aus dessen Apothekerzeit, ist auch Reichstagsabgeordneter der nationalliberalen, später deutsch-freisinnigen Partei. Er besorgte Martha Billets, um von der Besuchertribüne des Reichtages aus die Reden zu verfolgen. So erlebte sie unter anderen Bebel und war dabei, als Bismarck das Sozialisten-Gesetz durch den Reichstag peitschte. Von diesen Eindrücken berichtet sie im Anschluss minutiös ihrem Vater. Regina Dieterle schreibt: "Zu einer Zeit, da Frauen kein Wahl- und Stimmrecht besaßen, hatte Martha Fontane ein doppeltes Privileg: das Privileg, in der Hauptstadt zu leben, und das Privileg, einen `Onkel´ zu haben, der Reichstagsabgeordneter war und ihr gerne einen Tribünenplatz verschaffte."

Da der Vater Kritiken schrieb, hatte Martha auch problemlosen Zugang zu Theatern, Soirées, Musicals und damit insgesamt zu den politischen und kulturellen Diskursen ihrer Zeit. Der judenfeindliche Hofprediger Adolf Stoecker und ein Artikel des ebenfalls antisemitischen Historikers Heinrich von Treitschke aus dem Jahr 1879 lösten eine breite öffentliche Diskussion zur so genannten "Judenfrage" aus. Stoecker und Treitschke sind die Erfinder des modernen Antisemitismus in Deutschland. Am 30. April 1880 erlebte Mete in dieser aufgeheizten Stimmung eine Fortsetzung dieses öffentlichen Streits im Schauspielhaus, als das Stück "Gräfin Lea" von Paul Lindau aufgeführt wurde. Im Theaterstück wurde die Frage, ob Juden die gleichen Rechte wie alle anderen Bürger Deutschlands haben sollen, Pro und Contra behandelt. Ein Medienecho zu dieser Aufführung blieb jedoch aus. Mete hielt sich, nach eigener Einschätzung, "tapfer gegen antisemitische Einflüsse".

Um sie herum wurde geheiratet, doch sie blieb lange, bis zu ihrer Verlobung für die Eltern "die Tochter". Sie heiratete spät und war entschlossen, ein Leben als Alleinverdienende zu führen. Verschiedene Krankheiten und Depressionen verhinderten, dass sie die eigenen Wünsche und Fähigkeiten realisieren konnte.

Für Fontane-Liebhaberinnen ist das innige, bis leicht ins erotische kippende Verhältnis zwischen Tochter und Vater interessant. Auch die Frage, ob Martha Fontane sich das Leben nahm, beleuchtet die Biografin umfangreich. Sie sieht den Tod Marthas als Selbstmord. In einer Tagebucheintragung Marthas heißt es: "nun bin ich schändlicherweise auch noch krank und habe zeitlebens, so lange ich denken kann, für mich selber sehr viel ausgeben müssen und bin statt meiner gesicherten Lage durch Papas Werke und statt der Frau eines an Einnahmen sehr wohlhabenden Mannes eine im höchsten Maße bedrängte Frau, die auch nur noch kritisiert und missbilligt wird."

Zur Autorin: Regina Dieterle, geboren 1958, studierte Germanistik an der Universität Zürich. Seit 1990 Lehrbeauftragte an der Kantonsschule Enge Zürich. Von 1998 bis 2004 absolvierte sie längere Forschungsaufenthalte in Berlin. Dieterle ist Vorstandsmitglied der Theodor Fontane Gesellschaft und lebt in Zürich. Ihre Arbeiten umfassen Publikationen zu Annemarie Schwarzenbach, Theodor und Martha Fontane, Lydia Escher und Karl Stauffer-Bern.

AVIVA-Tipp: Regina Dieterles facettenreiche Biografie fasziniert durch die hohe Plastizität und den Detailreichtum, mit dem sie die kluge, kapriziöse und anspruchsvolle Martha Fontane beschreibt. Ihre Darstellung eines selbständigen Frauenlebens, das kurz vor der Reichsgründung, am 21. März 1860 beginnt und am 10. Januar 1917 endet, bietet ein dichtes Familien- und Zeitgeschichts-Panorama, dessen Hauptschauplatz Berlin ist. Berlin ist das Exerzierfeld der Moderne, die Stadt ein Laboratorium zwischen Klassendenken und Weltoffenheit. Mittendrin in dieser sich rasch umwälzenden preußischen Gesellschaft befindet sich die Familie Fontane und ihre Freunde. Regina Dieterle hat für ihr Buch umfangreiche, noch nicht erschlossene Briefe und Quellen geborgen und ermöglicht so einen neuen Blick auf das Beziehungsgeflecht zwischen Vater und Tochter.
Regina Dieterle
Die Tochter

Das Leben der Martha Fontane
Diogenes Verlag, erschienen September 2008
Kartoniert - 448 Seiten
ISBN: 9783257237412
14,90 Euro



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Beitrag vom 18.11.2008

Yvonne de Andrés