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AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 - Beitrag vom 23.04.2013


Rakefet Zalashik - Das unselige Erbe. Die Geschichte der Psychiatrie in Palästina und Israel
Susann S. Reck

Die Professorin für jüdische Studien, die in Beersheba, New York und Heidelberg lehrt, entwirft in ihrer hochbrisanten Untersuchung ein schockierendes Bild von der fachlich vernachlässigten...




... Auseinandersetzung mit psychisch Kranken und traumatisierten Shoa - Ãœberlebenden in Israel.

Vor allem anderen zeigt die Studie, die sich überwiegend auf eine Zeitspanne zwischen 1920-1960 konzentriert, dass weder medizinisch-psychiatrische Forschung, noch ihre Praxis Objektivität kennt, dass beides von unterschiedlichsten politischen und wirtschaftlichen Interessen geprägt wird. Sie legt dar, dass sowohl Stellenwert und Bewertung psychischer Krankheiten, als auch das Wohl beziehungsweise Leid der PatientInnen von der gesellschaftlichen Ordnung eines Staates abhängen. Die Lektüre macht schmerzlich bewusst, dass psychisch Kranke ein Paradebeispiel für Menschen sind, die, weil sie sich nur selten artikulieren können, kaum eine Lobby besitzen und mehr als jede andere Gruppe der Willkür anderer ausgesetzt sind.

In seinem bahnbrechenden Werk "Wahnsinn und Gesellschaft", stellt Michel Foucault die These auf, dass erst die von Machtansprüchen geleitete Vernunft in Akten der Ab- und Ausgrenzung psychische Krankheit begründet - um sich selbst zu legitimieren.
Dieser Ansatz, der herausarbeitet, dass sich die Vernunft (stets im Verbund mit Machtinteressen) über den Ausschluss anderer definiert, hilft ein Stück weit die Ergebnisse von Zalashiks Studie nachzuvollziehen, die unmissverständlich verdeutlicht, dass es in Israel im Umgang mit psychisch erkrankten Menschen und Shoa-Überlebenden ein unlösbares Spannungsverhältnis staatlicher (Gründungs-) Interessen einerseits und individuellem Schicksal andererseits gab.
Wie sonst erklärt es sich, dass seit den 30er Jahren PsychiaterInnen im "gelobten Land" ihre Hauptaufgabe darin sahen, der Verbesserung des genetischen Pools zu dienen, ein Umstand der gerade im jüdischen Staat überrascht. Auch dass nahezu alle MedizinerInnen nach der Staatsgründung Israels 1948 den Zusammenhang von Traumatisierung und psychischer Verfassung bei Shoa-Überlebenden leugneten, ist nicht einfach zu verstehen.

Laut Zalashik werden die Versäumnisse in der israelischen Psychiatrie-Literatur heute bedauert. Wie aber erklärt sich dieses Phänomen der Vernachlässigung und Verleugnung? Wie das Festhalten israelischer PsychiaterInnen an einer durch Rassenideologie und Selektion definierten Eugenetik, welche die NationalsozialistInnen ihrer Einschätzung nach nur missbraucht hatten?

In ihrer wissenschaftlichen Studie "Das unselige Erbe" nennt Rakefet Zalashik dafür mehrere Gründe, darunter das schlechte Ansehen des Lebens in der Diaspora in den Augen der ZionistInnen. Auch die Überzeugung, die Menschen müssten dem Staat dienen und nicht umgekehrt, spielte eine nicht unerhebliche Rolle. Hinzu kommt laut Zalashik, dass es im 20. Jahrhundert eine weltweite Neigung zu biologistischen Theorien gab, die sich außer in Deutschland insbesondere in den skandinavischen Ländern und den USA verbreiteten, an dem sich Israel nach der Staatsgründung in medizinischer Hinsicht orientierte.

Politische Grundlagen
Zu den Voraussetzungen für den Umgang mit psychisch erkrankten Menschen gehört laut Zalashik die zweite Alija (1903-1914), die überwiegend junge Menschen nach Palästina brachte, welche von sozialistischen Ideen und der Utopie einer klassenlosen Gesellschaft geleitet wurden. Ausschlaggebend für die spätere Behandlung psychisch kranker Menschen war in diesem Zusammenhang, dass sie das Land nicht nur nach ihren Vorstellungen aufbauen, sondern sich im Zuge dessen auch selbst verändern wollten, "indem sie eine Revolution des Charakters des gesamten jüdischen Volkes zum Ziel hatten" - wie Benjamin Bloch auf der Internetseite der Zentralen Wohlfahrtstelle für Juden in Deutschland feststellt.
Dieses in jener Zeit verinnerlichte Ideal eines "neuen Juden", der psychisch "gesund" und physisch stark den Unwägbarkeiten Palästinas trotzen konnte, beeinflusste seit den 30er Jahren auch den Umgang mit psychisch erkrankten Menschen.
Zum einen, so führt Zalashik aus, bildete sich schnell ein Tabu das besagte, dass das Land, dem Ideal des Zionismus folgend, per se nur eine positive Wirkung haben konnte. Zum anderen begegneten EinwandererInnen dieser frühen Alija all jenen Juden mit Misstrauen, die das Leben als auch das politische System in der Diaspora prinzipiell bejaht hatten. Sie hatten wenig Verständnis für die psychischen Auswirkungen, die der Verlust von "Heimat" möglicherweise nach sich zog. Für sie gab es nur eine Heimat und das war Erez Israel.

Fachliche Grundlagen
Die fachliche Grundlage für die palästinensisch- israelische Psychiatrie wurde, laut Zalashik während der fünften Alija (1931 bis 1939) gelegt.
In dieser Zeit stieg die Zahl der PsychiaterInnen von drei im Jahr 1933 auf siebzig im Jahr 1945. Ein Großteil von ihnen kam als vom Nazi-Regime verfolgt aus Deutschland und Österreich und obwohl sie dort selbst Opfer von Eugenetik und Rassenideologie geworden waren, hielten viele daran fest. Seit den 30erJahren hatte es Diskussionen über nationale Sterilisationsprogramme und Datenbanken gegeben und noch 1944 sprachen sich PsychiaterInnen in Palästina für ein generelles Nachwuchsverbot psychisch kranker Menschen aus.
"Wie konnten Opfer arischer Eugenetik - Theorien diese in Palästina und später in Israel vertreten?", kommentiert Zalashik an dieser Stelle ihrer Studie.

Psychohygiene
Im fließenden Übergang stellte sich nach 1945 bei israelischen PsychiaterInnen die Überzeugung ein, die menschliche Vererbung könne als Schlüsselfunktion bei der Entwicklung der Menschheit durch "Psychohygiene" gelenkt werden. Die Umwelt als Krankheitserreger geriet damit in den Vordergrund. Psychische Störungen, so glaubte die Fachwelt nun vermehrt, könnten durch eine Änderung sozialer Bedingungen geheilt, Kriminalität und Armut wirkungsvoll verhindert werden. Die Forderungen galten der Prävention und offenen psychiatrischen Abteilungen.
Der "psychohygienische" Ansatz setzte sich in Israel jedoch nicht durch. Die Zuwandererströme der 50er und 60er Jahre sorgten für akuten Bettenmangel, aber die Aufnahme in eine staatliche oder private Anstalt blieb alternativlos. Wer keinen Platz bekam, blieb- laut Zalashik - sich selbst überlassen.

Traumatisierte Shoa-Ãœberlebende in Israel
Der Studie nach war das Leben für diejenigen, die durch Folgen von Traumatisierung beeinträchtigt waren, im Israel nach der Shoa erbärmlich. Es liest sich grotesk, dass, laut Zalashik, das israelische Gesundheitsministerium traumatisierten Opfern im Rahmen zu fordernder Entschädigungszahlungen aus Deutschland Betrug unterstellte und ihnen im großen Stil Kompensations- und Zweckneurosen andichtete. Mit steigendem Unbehagen erfahren wir weiter von einer Untersuchung aus dem Jahr 1989, die bestätigte, dass es 50 Jahre nach der Shoa noch psychische Spätfolgen gab. Auch ist es schwer zu glauben, dass weder eine öffentliche Debatte über die aus Deutschland zu leistenden Entschädigungszahlungen stattfand, noch darüber, dass sich das Verhalten von Staat und ÄrztInneneschaft möglicherweise re-traumatisierend auf die Opfer auswirkte.
Die Kriterien für den Umgang mit psychisch Kranken und traumatisierten Shoa-Überlebenden im neu gegründeten Israel hatten sich demnach ausschließlich an den Bedürfnissen des Staates gemessen. Michel Foucaults These, nach der sich Vernunft gepaart mit Machtinteressen durch Ausgrenzung definiert, schien sich einmal mehr zu bewahrheiten.

Aber sind Rakefet Zalashiks Ausführungen in ihrer Ausschließlichkeit auch wirklich haltbar?
Die Studie lässt in ihrer umfangreichen, wissenschaftlich fundierten Aufarbeitung historischer Quellen diesen Schluss tatsächlich zu - auch wenn Fragen offen bleiben, wie zum Beispiel, ob es keine alternativen Programme zur staatlichen Handhabe mit psychischen Erkrankungen gab. Auch inwieweit sich die Situation inzwischen geändert hat, findet keine Erwähnung. Und natürlich ist das Phänomen der Abwehr von psychischem Leid ein internationales, und weder an das Land vor oder nach der Staatsgründung Israels gebunden.
Dennoch legt die Studie nahe, dass es unter den PsychiaterInnen selbst Opfer des Nazi-Regimes gegeben haben musste, die ihre eigenen Traumata leugneten und als Konsequenz auch die ihrer PatientInnen. Und es wird deutlich, dass sich dies katastrophal gegen jene wendete, die psychisch erkrankt, im Zuge der Shoa nicht nur ihres Verstandes, sondern häufig auch ihrer Familie beraubt worden waren, sodass sprichwörtlich nichts mehr übrig blieb, um sich zu wehren.
Die PsychiaterInnen Israels konnten ihre Aufgabe mehrheitlich nicht darin sehen, ein öffentliches Bewusstsein im Sinne der Opfer zu schaffen, die Forschung in den Dienst der Betroffenen zu stellen und für ein Verständnis zu werben, das psychisch erkrankte Menschen und traumatisierte Shoa - Überlebende zweifelsfrei verdient haben.

AVIVA-Tipp: "Das unselige Erbe" ist ein wissenschaftliches Fachbuch, das schwer zu lesen und inhaltlich nicht leicht zu verkraften ist. Die Lektüre regt jedoch zur kontroverser Diskussion an. Auch möchte frau mehr über die Situation psychisch erkrankter Menschen im heutigen Israel erfahren.

Zur Autorin: Dr. Rakefet Zalashik wurde im polnischen Lodz geboren. Sie spricht neben Polnisch, Hebräisch und Englisch auch Deutsch und Yiddisch. Ein ständiger Wohnsitz ist New York. Zalashik studierte in Tel Aviv und München Geschichte, Soziologie und Anthropologie. Seit 2000 hat sie zahlreiche wissenschaftliche Studien veröffentlicht und Vorträge gehalten, die sich thematisch mit Psychiatrie und Palästina, Psychiatrie und Kolonialismus sowie mit der Geschichte der deutschen Psychiatrie auseinandersetzen. "Das unselige Erbe" ist ihre Doktorarbeit. Rakefet Zalashik lehrt an den Universitäten von Beersheba, Heidelberg und New York. Sie ist Inaugural Mirowski Fellow für Israeli Studies an der Temple University in Philadelphia. 2009 und 2010 war sie die erste Ben-Gurion- Gastprofessorin für Israel- und Nahoststudien an der Universität und an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg.
Mehr Informationen unter:
www.hfjs.eu
www.campus.de

Rakefet Zalashik
Das unselige Erbe. Die Geschichte der Psychiatrie in Palästina und Israel

Übersetzung aus dem Hebräischen: David Ajchenrand
Campus Verlag, erschienen: 08.11.2012
214 Seiten, 6 SW Fotos, kartoniert
Euro 24,90
ISBN -13: 9783593393612

Weiterführendes

Michel Foucault, [Wahnsinn und Gesellschaft]: www.aerzteblatt.de

Ilana Tsur: [The last transfer. Dokumentarfilm1997]: www.1worldfilms.com

Lizzie Doron - Das Schweigen meiner Mutter

Steven Spielberg: [The Shoa Foundation]: sfi.usc.edu

Hannah Arendt

Benjamin Bloch: Zentrale Wohlfartstelle für Juden in Deutschland: www.zwst4you.de







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Beitrag vom 23.04.2013

Susann S. Reck