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Beitrag vom 03.10.2015
Georg Hermann. Jettchen Gebert. Henriette Jacoby. Zwei Berliner Romane
Magdalena Herzog
1906 schreibt der deutsch-jüdische Schriftsteller Georg Hermann die Geschichte Jettchen Geberts – der jüdischen Berlinerin, die assimiliert und bürgerlich zur Zeit des Biedermeiers lebt und dem...
... Dilemma familiärer Konventionen und eigenen Bedürfnissen ausgeliefert ist.
Der Berliner Elsengold Verlag hat das Werk Gebert wieder aufgelegt und bringt damit die Persönlichkeit Jettchen, die jüdische Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ins Bewusstsein und erinnert nicht zuletzt an den zu wenig beachteten Literaten Georg Hermann.
Georg Borchardt alias Georg Hermann
Georg Hermann wurde als Georg Borchardt geboren und benannte sich später nach seinem Vater Hermann, der früh und in Armut gestorben war. Mit den schriftstellerischen Anfängen und als Kunstkritiker für den Ullstein Verlag im späten 19. Jahrhundert war Hermann bekannt geworden. Berühmtheit erlangte er mit seinem RomanJettchen Gebert (1906) und der FortsetzungHenriette Jacoby (1908). Mit der Verfilmung von Richard Oswald und mit Mechthildis Thein in der Hauptrolle (1918) und der Bearbeitung in ein Singspiel mit der Musik von Walter Kollo (1928) wurde Georg Hermann wohlhabend. Die Nationalsozialisten setzten ihn und seine Werke auf die Liste der "auszumerzenden Autoren", seine Bücher brannten im Mai 1933. Im November 1943 wurde er aus seinem Exil in den Niederlanden nach Auschwitz deportiert. Sein vermutliches Todesdatum ist der 19. November 1943.
Worum geht es im dem Buch, das Begeisterungswelle auslöste und zum Bestseller wurde?
HermannsJettchen, wie der Roman liebevoll in den damaligen Kritiken genannt wurde, war kurz nach seinem Erscheinen zum Stadtgespräch geworden und schien für viele inspirierend und nachahmenswert zu sein wie einstmals Goethes Leiden des jungen Werthers. Glücklicherweise hatte der Autor bereits den zweiten Teil, Henriette Jacoby, im Kopf, der ihm ebenfalls großen Erfolg einbrachte.
Wir befinden uns im Berlin der späten 1830er Jahre: Jettchen Gebert lebt bei Onkel Salomon, demSeidenwarenhändler, und Tante Riekchen in Charlottenburg – sie ist bezaubernd und eine Verheiratung steht an. Statt sich in den für sie angedachten Cousin Julius zu verlieben, empfindet sie eine große Zuneigung gegenüber dem ärmlichen Literaten – und Nichtjuden – Dr. Kößling. Einzig Jettchens Onkel Jason versteht und unterstützt ihr Bestreben, den Verehrer für einen würdigen Ehemann zu erklären, während Jettchen gleichzeitig von Schuldgefühlen geplagt ist, sich den fürsorgenden Verwandten als dankbar zu erweisen. Unfähig sich verbal zu äußern, geht sie die Hochzeit mit dem Ungeliebten ein. Mitten im rauschenden Fest hat sie die Kraft dazu und entflieht dem Fest. Damit endet Jettchen Gebert und Henriette Jacoby beginnt.
Jettchen ist zur verheirateten Frau geworden, hat ihren Kosenamen verloren und den Ehenamen Jacoby angenommen. Sie lebt bei ihrem Onkel Jason, der ihr ermöglicht, den Geliebten zu sehen. Zunehmend verschieben sich die Grenzen der verwandtschaftlichen Nähe zu Jason und die Protagonistin steht vor einem neuen Dilemma. Die Aushandlung und letztendliche Entscheidung ist Gegenstand des zweiten Romans.
Emanzipation durch das Fühlen
Was die ereignisarme Erzählung reizvoll macht, ist die Entwicklung Jettchens zu einer Frau, die Liebe und damit ihre eigenen Bedürfnisse entdeckt und nach deren Erfüllung sucht - etwas, was weder im Geschlechterbild der 1830er Jahre, noch im frühen 20. Jahrhundert eine vorgeordnete Rolle spielte. Jettchens Gefühle verletzen die Grenzen der Konventionen – sie liebt über soziale Klassen und religiöse Grenzen hinaus. So assimiliert die Familie lebt, so bewusst lebt sie jüdisch. Man hat sich gegen die Taufe entschieden und Jettchen würde sich mit der Heirat eines Christen gegen die Familie wenden. Mit diesem Moment erinnert der Roman stark an Fanny Lewalds Werk Jenny (1843), dessen Gegenstand ebenfalls das romantische Begehren des armen, intellektuellen Christen und das daraus entstehende Dilemma ist. In beiden Romanen stehen die christlichen Männer als Antithese zum Geschäftsleben der eigenen Familie und repräsentieren die romantische Liebe.
Jettchens Verhalten ist jedoch nicht schlicht als Aufbegehren gegen die Konventionen zu interpretieren. Wenn sie von ihrer Hochzeitsfeier flieht, so weniger, weil sie per se und bewusst gegen diese Strukturen ist. Sie ist eine selbstbewusste, jedoch nicht kämpferische Natur, keine Frau, die ihren Widerwillen verbalisiert. Dazu genießt sie die Vorteile des bürgerlichen Lebens zu sehr. Vielmehr ist Jettchen eine sensible und verwöhnte Frau, die sich als Persönlichkeit und Individuum in den Mittelpunkt stellt. Der Zugang zu ihren eigenen Gefühlen und Wünschen ist es, der Jettchen stärkt und sie zu ihren Entschlüssen und ja, tragischen Entscheidungen verhilft. Leider lässt Hermann nur Jettchen als Frau eine außerordentliche Rolle spielen. Ihre emotionalen Bezugspersonen sind Männer – diejenigen die sie verstehen und diejenigen, die über sie bestimmen.
Salopper Ton trifft vornehme Bürgerlichkeit
In der Erzählweise erinnert Hermanns Stil anTheodor Fontane. Die überschaubare Handlung ist strukturiert durch die Konversionen, die oft in Dialekt und in saloppem und ironischem Ton geschrieben sind. Wir treffen auf detailreiche Beschreibungen des bürgerlichen Alltags, der zwischen Biedermeier und Vormärz changiert: Konversationen über die aktuellen Aufführungen der Schauspiel- und Opernhäuser, der Literatur und Politik und nicht zuletzt der Kleidung. Besonders dieser Aspekt ist ein zentrales Charakteristikum des Hermannschen Stils, denn lesen sich diese Beschreibungen wie ein ausformuliertes, poetisches Modelexikon:
"Wie sie trendelte und ging auf ihren kleinen Schuhen mit den breiten Schnallen, ganz in Silbergrau, wie ein Frühlingsabend. Die drei Reihen von Volants am weiten Rock glitten, rauschten und zitterten. [...] Sie trug mattblaue Handschuhe, das eine schwarze Lyra in schwarzen Perlen gestickt zeigte – eine Art von Pompadour." (Jettchen Gebert, S. 12)
Hermann trifft die Stimmung und die Prioritäten während des Biedermeier, angefüllt mit Fachbegriffen aus der Modewelt. Während im ersten Buch die Konversationen in der Familie und im urbanen Alltag dominieren, findet im zweiten Roman die feinen Charakterstudien und die Stimme des Autors mehr Raum.
In den Romanen Jettchen Gebert und Henriette Jacoby überlagert sich die literarische Fiktion Georg Hermanns mit historischer Phantasie und Nostalgie gegenüber der Epoche des Biedermeiers und der damit einhergehenden Nähe zwischen Deutschen und Jüdinnen/Juden, die der Autor in seiner Gegenwart mit Skepsis betrachtete. Und es ist die Geschichte einer Frau unter Männern, die um einen Umgang mit den bürgerlichen Konventionen ringt.
Ein ausführliches, mit Verweisen versehenes Nachwort von der Autorin Regina Stürickow mit skizzenartig gezeichneter Biografie Hermanns und Details zur Rezeptionsgeschichte runden diese Ausgabe Jettchen Geberts und Henriette Jacobys ab. Gemeinsam mit der hübschen Aufmachung, Prinzessin Augusta von Karl Begas auf dem Umschlag, gebunden in Halbleinen, mit Lesebändchen versehen, ist es eine äußerst gelungene Ausgabe.
AVIVA-Tipp: Ein Lesevergnügen im Fontanschen Stil und Lewaldschen Themen, gepaart mit der Ironie und Koketterie des frühen 20. Jahrhunderts. Kostümgeschichte, jüdische Geschichte und Frauengeschichte in einem.
Georg Hermann
Jettchen Gebert. Henriette Jacoby
Elsengold Verlag, erschienen März 2015
Hardcover in Halbleinen gebunden mit Lesebändchen, 623 Seiten
ISBN 978-3-944594-24-8
www.elsengold.de
Quellen:
www.filmportal.de
Felix Bloch Erben. Verlag für Bühne, Film und Funk
Nussbaum, Laureen, "Georg Hermann", in Neues Lexikon des Judentums, hg. von Julius Schoeps, Überarbeitete Neuausgabe Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2000.
Weidermann, Volker. Das Buch der verbrannten Bücher. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 98ff.
Ausgewählte Literatur von und über Georg Hermann:
Werke und Briefe von Georg Hermann: Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam
Godela Weiss-Sussex (Hg.): Georg Hermann: Deutsch-jüdischer Schriftsteller und Journalist, 1871-1943. De Gruyter, Berlin, 2004, 978-3484651487.
Laureen Nussbaum (Hg.): Unvorhanden und stumm, doch zu Menschen noch reden: Briefe Georg Hermanns aus dem niederländischen Exil 1933-1941 an seine Tochter Hilde. Weltabschied. Ein Essay. Persona Verlag, Mannheim, 1991, 978-3924652173.
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Der im Herbst 2009 erschienene Band widmet sich einem "Aderlass", von dem "sich Deutschland bis heute nicht erholt" hat, wie die AutorInnen schreiben. Gemeint ist die fast vollständige Ermordung und Vertreibung der Jüdinnen und Juden - in diesem Fall akribisch recherchiert am Beispiel Charlottenburg. (2010)
200. Geburtstag von Fanny Lewald
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Zur jüdischen Frauengeschichte im 19. Jahrhundert:
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