AVIVA-Berlin >
Literatur > Jüdisches Leben
AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 -
Beitrag vom 13.10.2009
Mirjam Pressler - Grüße und Küsse an alle - Anne Franks Familiengeschichte in Briefen
Anna Opel
Mirjam Pressler, vielbeschäftigte Autorin und Übersetzerin aus dem Hebräischen, hat umfangreiche Briefwechsel aus der Familie des weltweit wohl berühmtesten Opfers des Holocaust herausgegeben
Wer kennt nicht das "Tagebuch der Anne Frank", das anrührende Zeugnis der letzten Monate eines von den Nazis verfolgten jungen Mädchens vor ihrer Ermordung? Das in der kleinen Amsterdamer Dachkammer für sich selbst geschriebene Büchlein wurde, vom Vater Otto Frank veröffentlicht, zum wichtigen Dokument eines individuellen Schicksals, wie es millionenfach durchlitten wurde. Aufgrund der historischen Bedeutung dieses Tagebuchs ist die Geschichte der Person Anne Frank in vielen Publikationen umfangreich und erschöpfend dokumentiert. Wozu, könnte man fragen, brauchen wir ein weiteres Buch, eine Familiengeschichte der Franks?
Der Fund eines umfangreichen Konvoluts an Dokumenten und Fotos im Basler Haus von Anne Franks Cousin Buddy Elias bildet das Fundament einer sowohl anrührenden, wie historisch aufschlussreichen Familienchronik, die bis ins 19. Jahrhundert und weiter zurückreicht.
Die Schriftstellerin und Ãœbersetzerin Mirjam Pressler hat, gemeinsam mit Gerti Elias, der Frau von Buddy Elias, dem letzten noch lebenden direkten Verwandten von Anne Frank, die Dokumente geordnet und nun ca.500 Briefe aus dieser Sammlung ediert.
Pressler kommt der Leserin entgegen, indem sie die einzelnen Briefe, Gedichte und Fotos einwebt in eine große Erzählung, die sich liest, wie ein historischer Roman.
Dass diese Familiengeschichte ausgerechnet die Geschichte von Anne Franks Vorfahren ist, wirkt sich möglicherweise vor allem auf die öffentliche Aufmerksamkeit aus, die diese interessante Publikation hoffentlich finden wird. Natürlich gewinnt man durch die Lektüre Hintergrundwissen zur Person Anne Frank. Ihr Leben und ihr Schicksal wird, wenn man so will, in einen größeren historischen Kontext der deutsch-jüdischen Geschichte gestellt. Dabei geht es aber nicht darum, Neuheiten über Anne Frank zu erfahren, das bisherige Bild ihres Lebens womöglich zu korrigieren.
Was Mirjam Pressler zusammen mit Gerti Elias hier vorlegt, ist, und das ist vielleicht noch wichtiger als die Verbindung zur prominenten Person Anne Frank, ein Familienepos, das mit Sicherheit exemplarisch für viele jüdische Familien in Europa steht. Das Verdienst der Publikation liegt in der kleinteiligen, liebevollen Aufarbeitung einer jüdisch-europäischen Familiengeschichte vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Es ist die Geschichte jüdischen Alltags in Deutschland, die in dieser Familie und in vielen anderen auch, zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum noch von jüdischer Tradition geprägt war. Man war, so liest es sch auch hier, durch und durch deutsch und identifizierte sich mit Deutschland als Heimatland. Bis man, wie schon so oft in der langen Geschichte der Juden in Deutschland, ein weiteres Mal und diesmal gründlich, stigmatisiert, ausgegrenzt und verfolgt wurde.
"Grüße und Küsse an alle" ist auch die Geschichte eines regen familiären Informationsaustauschs, der geprägt war von gegenseitiger Sorge und Anteilnahme bei freudigen Ereignissen und in schweren Zeiten. Möglicherweise wurden in der Familie Frank-Elias diese Kontakte überdurchschnittlich intensiv gepflegt und wertgeschätzt. Ein glücklicher Umstand, muss man sagen, dem die Nachwelt diese vielen aufschlussreichen Briefe zu verdanken hat.
Die Herausgeberinnen greifen in der Geschichte weit zurück. Das Buch beginnt mit der Kindheit von Alice Frank, geb. Stern (1865-1953), der Großmutter von Anne Frank, deren Kindheitserinnerungen mit einfließen. Darunter auch die Erzählungen von Alices´ Großvater, der in der Frankfurter Judengasse noch in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen war. Und wie die Familie es innerhalb weniger Jahrzehnte zu erstaunlichem Wohlstand brachte. Alice beispielsweise, die in ihrem eigenen Haushalt mit den vier Kindern, zu denen auch Otto Frank, der Vater von Anne Frank gehörte, keinen Handschlag selbst zu tun brauchte. Doch die Zeiten wurden bald wieder schwieriger. Der Rest ist die bekannte beginnende Verfolgung und Vertreibung, verschiedene Versuche, sich im Ausland in Sicherheit zu bringen.
Zur Autorin: Mirjam Pressler, geboren 1940 in Darmstadt, wuchs bei Pflegeeltern auf. Sie studierte in Frankfurt und München und lebt heute als freie Autorin und Übersetzerin bei München. Mirjam Pressler ist die deutsche Übersetzerin des "Tagebuchs der Anne Frank" und hat auch eine Biographie Anne Franks veröffentlicht ("Ich sehne mich so. Die Lebensgeschichte der Anne Frank"). Sie hat mit großem Erfolg insgesamt fast vierzig Bücher veröffentlicht und ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.
Gerti Elias, geboren 1933 in der Steiermark, wuchs in Österreich auf. Ausbildung zur Schauspielerin, Engagements an großen Bühnen in Deutschland und der Schweiz, 1965 Heirat mit Buddy Elias, Ausstellungen als Malerin, 1986 Übersiedlung nach Basel, wo sie das Antiquitätengeschäft von Leni Elias übernahm, Mitglied im Stiftungsrat des Anne-Frank-Fonds, Betreuung des Anne-Frank-Ethik-Lehrstuhls. (Verlagsinformationen)
AVIVA-Tipp: Wie man lebte, wie man Kontakt zueinander hielt, welchen Umgangston man pflegte, all diese interessanten Details einer Mentalitätsgeschichte kann man Anne Franks Briefen und Presslers Texten entnehmen. Dass sich die Einzelteile zu einem packenden wie historisch genauen Gesamtbild fügen, in dem auch die Große Geschichte, da wo sie zum Verständnis nötig ist, immer wieder vorkommt, ist Mirjam Pressler und Gerti Elias zu verdanken. Sie haben eine gute, einfühlsame Arbeit geleistet.
Mirjam Pressler
Unter Mitarbeit von Gerti Elias
Grüße und Küsse an alle
Hardcover mit zahlreichen Abbildungen, ca. 400 Seiten
S. Fischer Verlag, erschienen Oktober 2009
ISBN 978-3-10-022303-6
Ca. 22,95 Euro
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
"Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen" von Mirjam Pressler.
"Golem stiller Bruder" von Mirjam Pressler.
"Rosengift" von Mirjam Pressler.
Malka Mai. Hörspiel nach einer wahren Geschichte von Mirjam Pressler.
Im Rahmen des Gedenkjahres 2005 stellte Ihnen AVIVA-Berlin zwei Bücher zu Anne Frank vor: "Liebe Anne. Ein Buch für Anne Frank" und "Geschichten und Ereignisse aus dem Hinterhaus".
Weitere Informationen:
Anne Frank WebGuide für SchülerInnen: www.annefrankguide.net
Informationen über das Anne Frank Zentrum in Berlin:
Anne Frank Zentrum e. V.
Rosenthaler Straße 39
10178 Berlin-Mitte
www.annefrank.de