Charlotte Perkins Gilman - Die gelbe Tapete - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Romane + Belletristik



AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 20.08.2018


Charlotte Perkins Gilman - Die gelbe Tapete
Bärbel Gerdes

Charlotte Perkins Gilman ("Herland") beschreibt in ihrer schon 1892 erschienenen Erzählung das allmähliche Abgleiten einer Frau in Depression und Realitätsverlust. Der beklemmende und bedrückende Text erinnert zwar an Werke von Edgar Allan Poe, ist gleichzeitig jedoch ein Frühwerk des Feminismus.




"Er ist sehr fürsorglich und liebevoll, ohne besondere Anweisung darf ich mich kaum rühren. Die Ich-Erzählerin mietet mit ihrem Mann in einem Sommer ein Haus aus der Kolonialzeit. Es wird günstig angeboten, und es ist ein wenig unheimlich – zumindest für die Ehefrau. John, ihr Mann, macht sich darüber lustig. Er habe einen ausgeprägten Widerwillen gegen Aberglauben, schreibt die Frau, und wer über Dinge spricht, "die man nicht anfassen und sehen und in Formeln aufschreiben kann, für den hat er nur Hohn und Spott übrig."

Charlotte Perkins Gilman ist dreißig Jahre alt, als sie diese Kurzgeschichte aufschreibt, mit der sie ihren literarischen Ruhm begründet und gleichzeitig ihre eigene Geschichte verarbeitet.
Im Juli 1860 in Connecticut geboren, wuchs sie in einer sehr lieblosen Umgebung auf. Ihr Vater verließ die Familie kurz nach ihrer Geburt. Ihre Mutter war streng und abweisend. Charlotte, deren Gefühlsausbrüche sie selbst ängstigten, beschloss, sich zu disziplinieren und zu kontrollieren, und sie entschied sich dafür, ehelos zu bleiben.
Als sie jedoch den Maler Charles Walter Stetson kennenlernt, verlobt sie sich mit ihm. Schon in dieser Zeit fällt dem Mann auf, wie sehr Charlotte ums Überleben ringt und dass sie lieber als Kind, denn als Frau behandelt werden möchte. Je näher der Hochzeitstermin rückte, desto schlechter ging es ihr.
Ihre Depression verstärkte sich, nachdem sie schwanger wurde. 1885, nach der Geburt ihrer Tochter Katharine, fühlte sie sich eingesperrter denn je.

Anders also als bei der Protagonistin der Erzählung, die nach der Geburt ihres Kindes krank wird, waren es eher die frühkindlichen Lebens- und Leidensumstände, die zu Perkins Gilmans Erkrankung führten.

Im Herbst 1885 jedoch bricht die Autorin aus: sie verlässt ihre Familie, ihre Mutter kümmert sich um das Kind und Charlotte Perkins Gilman besucht eine Freundin in Pasadena. Die beiden verfassen Theaterstücke und führen sie auf. Charlotte erholt sich.
Doch kurz nachdem sie im Frühjahr 1886 zu ihrem Mann und ihrer Tochter zurückgekehrt ist, erkrankt sie erneut. Ein Jahr später begibt sie sich in ärztliche Behandlung. Mastkur, Untersagen von geistiger Betätigung und Ruhe sind die Standardtherapien bei psychischen Belastungen.

John, der Ehemann in der Geschichte, ist auch Arzt. "[er] gibt mir Lebertran und verschiedene Stärkungsmittel und sowas. Ganz zu schweigen von Bier und Wein und halbrohem Fleisch." Natürlich soll sie weder lesen noch schreiben. Das hat Folgen: "Eine Zeitlang habe ich geschrieben, ihnen zum Trotz: doch es im Geheimen zu tun oder ihre Ablehnung zu ertragen, strengt mich ´wirklich´ an." Das Zimmer wird ihr unheimlich, insbesondere die gelbe Tapete darin. Sie verfolgt die Muster, erblickt Gesichter, die Tapete scheint sich zu bewegen. "Nachts, egal bei welchem Licht, im Zwielicht, Kerzenlicht, Lampenlicht, am schlimmsten bei Mondlicht, werden Gitterstäbe daraus!"

Die Schilderungen ihres Erlebens, die wuchernden Formen in schrägen Wellen, ein optischer Horror wie wallender Seetang erinnern auf furchtbare Weise an Ulrike Meinhofs Schilderungen aus der Isolationshaft: "Das Gefühl, es würde einem das Rückenmark ins Gehirn gepresst Das Gefühl, die Zelle fährt. Man wacht auf, macht die Augen auf: die Zelle fährt, nachmittags, wenn die Sonne reinscheint, bleibt sie plötzlich stehen. Man kann das Gefühl des Fahrens nicht absetzen."

Die Therapieversuche gleichen denen, denen Virginia Woolf ausgesetzt war und auch jene Frauen, die Nellie Bly 1887 undercover in einer psychiatrischen Klinik vorfand.
Als die Frauenbewegung der 1970ger Jahre Perkins Gilmans Text wiederentdeckte, ging dies einher mit Büchern über die Psychiatrisierung von Frauen, beispielsweise Roswitha Burgards bahnbrechendes Wie Frauen verrückt gemacht werden. Die gelbe Tapete wurde zu einem Klassiker der Neuen Frauenbewegung.

Charlotte Perkins Gilman konnte sich befreien. 1888 verließ sie ihren Mann endgültig. Zwei Jahre später schrieb sie The Yellow Wall-Paper, das abermals zwei Jahre später veröffentlicht wurde. 1893 zog die Autorin zu ihrer 21 Jahre älteren Freundin, der Schriftstellerin Helen Campbell, nach San Francisco. Charlotte wurde zur Aktivistin. Sie besuchte internationale Frauenkongresse und schrieb 1898 Women and Economics, mit dem sie Frauen aus ihrem Haushaltsgefängnis befreien wollte und in dem sie für finanzielle Unabhängigkeit von Frauen eintritt.

1900 heiratete sie ihren sieben Jahre jüngeren Vetter, der ihre berufliche Tätigkeit vollkommen unterstützte. Sie rief die Zeitschrift The Forerunner ins Leben und fungierte als Alleinautorin und Herausgeberin. Sie arbeitete als Journalistin und Rednerin und schrieb unzählige Erzählungen, Romane, Dramen und theoretische Schriften. In Deutschland wurde ihre Fiktion Herland über eine nur aus Frauen bestehende Bergrepublik in Südamerika 1980 zu einem Kultbuch der Frauenbewegung.

Der Dörlemann-Verlag hat die Autorin mit dieser Neuausgabe wirklich geehrt. Der zweisprachig abgedruckte Text, der eng am Original und genauso fesselnd von Christian Detoux übersetzt wurde, befindet sich zwischen zwei aufwändig gestalteten Leinenbuchdeckeln, das Vorsatz wurde gelb tapeziert.

AVIVA-Tipp Die gelbe Tapete lohnt sich, wieder entdeckt zu werden. Der Schlüsseltext der amerikanischen Literatur ist spannend, unheimlich und ergreifend.

Zur Autorin: Charlotte Perkins Gilman, am 3. Juli 1860 in Hartford, Connecticut als Charlotte Anna Perkins geboren, war eine US-amerikanische Schriftstellerin, Journalistin, Aktivistin und Frauenrechtlerin. 1892 erschien ihre Erzählung Die gelbe Tapete. Es folgten etliche Romane, Erzählungen, Dramen und theoretische Schriften. 1932 erkrankte sie an Brustkrebs. Am 17. August 1935 nahm sie sich in Pasadena, Kalifornien, das Leben. Weitere Informationen zur Autorin bei FemBio: www.fembio.org

Zum Übersetzer: Christian Detoux, studierte Anglistik und Germanistik. Er arbeitet als Übersetzer und freier Lektor. Zuletzt erschienen von ihm die Übersetzungen der Totel Bibliomania von Stephen Gilbar, Geschröpft und zur Ader gelassen von Roy Porter sowie Bruce Eric Kaplans Edmund und Rosemary in der Hölle (alle Dörlemann Verlag).

Charlotte Perkins Gilman
Die gelbe Tapete

Originaltitel: The Yellow Wall-Paper
Ãœbersetzt von: Christian Detoux
Englisch/deutsch
96 Seiten. Leinen. Leseband
Dörlemann Verlag, erschienen am 22.8.2018
ISBN 978-3038200581
Ca. 14,00 Euro
Als eBook erhältlich!
ISBN eBook 9783038209584
Ca. € 11.99
Mehr zum Buch: doerlemann.com


Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Alma M. Karlin - Ein Mensch wird. Auf dem Weg zur Weltreisenden
Eine Frau, die mehr als zehn Sprachen spricht, eine Frau, die die berühmteste Reiseschriftstellerin zwischen den beiden Weltkriegen wird. Eine Frau, die halbseitig gelähmt auf die Welt kommt und ein Leben in Einsamkeit lernt. In ihrer schonungslosen Autobiographie ihrer ersten 30 Jahre nimmt uns Alma Karlin mit auf eine harte Lebensreise. (2018)

Zehn Tage im Irrenhaus. Undercover in der Psychiatrie, von Nellie Bly.
Als die Journalistin Nellie Bly 1887 von der New York World gefragt wurde, ob sie sich in eine Anstalt für Geisteskranke einweisen lassen könnte, um einen Bericht über die Behandlung der dortigen Patientinnen zu schreiben, zögerte sie keinen Moment. Erschienen 2011 im AvivA-Verlag




Literatur > Romane + Belletristik

Beitrag vom 20.08.2018

Bärbel Gerdes