Betty Schiel, Maxa Zoller (Hg.) - Was wir filmten. Filme von ostdeutschen Regisseurinnen nach 1990 - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Sachbuch



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 02.11.2021


Betty Schiel, Maxa Zoller (Hg.) - Was wir filmten. Filme von ostdeutschen Regisseurinnen nach 1990
Helga Egetenmeier

Im September 2020 lief auf dem Internationalen Frauen* Film Fest Dortmund+Köln ein Programm unter dem Titel "Nach der Wende 1990|2020". Daraus entwickelte sich eine facettenreiche Debatte mit und über ostdeutsche Regisseurinnen, so die...




... Kuratorin Betty Schiel und die Festivalleiterin Maxa Zoller. Die dabei diskutierten persönlichen bis politischen Erfahrungen und Positionen haben sie in diesem Buch zusammengebracht.

Wie die Texte des im Oktober 2020 erschienen "Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive", nehmen auch die Beiträge in "Was wir filmten", den Kampf gegen das "Einheits-Narrativ" auf. Die Autor*innen folgen nicht dem "eindeutigen, westlich-modernen Fortschrittsgedanken", erklären die Herausgeberinnen, sondern stellen sich gegen den Mainstream des Erinnerns.

Ostdeutsche Filmemacherinnen zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Als Filmemacherinnen schreiben mehrere Autorinnen über ihre Erfahrungen bei deren Entwicklung, Produktion und Rezeption. Dazu machen sie deutlich, dass sie sich konsequent dafür einsetzten, im Film ihre Sichtweise zu vermitteln. Deshalb freut sich Dokumentarfilmerin Grit Lemke über die anhaltend positiven Reaktionen auf ihren Film "Gundermann Revier". Dies bestätige ihre Entscheidung, die Geschichte der DDR anhand der Biographie des Sängers Gerhard Gundermann, die sie mit der Bedeutung des Tagebaus für die Stadt verknüpfte, zu reflektieren. Die Auswahl des Themas hatte aber auch persönliche Gründe, denn sie gehöre wie der von ihr Porträtierte zur gleichen Generation "Hoyerswerdscher", so Lemke.

Einen weit persönlicheren Zugang wählte Ines Johnson-Spain mit ihrem autobiografischen Dokumentarfilm "Becoming Black" (2019). Darin geht sie über vierzig Jahre zurück und beschreibt ihr Aufwachsen in der DDR als Kind eines afrikanischen Vaters, das durch einen Ehebruch gezeugt wurde. Sie habe sich "nie wirklich zu Hause gefühlt," weshalb die Reisefreiheit nach dem Mauerfall für sie auch die Möglichkeit eröffnete, ihre Familie in Westafrika kennen zu lernen. Sieben Jahre, schreibt sie, dauerte die Arbeit an diesem Film, für den sie sich größtmögliche Autonomie bewahren wollte, weshalb sie Schwierigkeiten hatte, eine Finanzierung zu erhalten.

Auf zweifache Weise thematisiert der Beitrag von Johanna-Yasirra Kuhs die Finanzierung von Kultur, und damit die Verstetigung von Erinnerung. Es habe 2019 plötzlich für ein Interview-Projekt Geld gegeben - "aber nur für dieses eine Jahr," - das ihre Kollegin Tanja Krone schon lange machen wollte, so die Dramaturgin. Deshalb konnten beide ein Gespräch mit Tamara Trampe über deren Dokumentarfilm "Der schwarze Kasten. Ein Psychologe der Staatssicherheit erzählt" (1992) führen. Trampe erzählt ihnen dabei unter anderem, dass sie sich damals gewundert habe, das beantragte Geld für den Film so schnell bewilligt bekommen zu haben: "Weil das war ja der erste Täter-Film. Vorher immer nur Opfer, Opfer, Opfer", erklärt sie es sich heute.

Weitere Beiträge von Filmemacherinnen zeigen, wie breit gefächert deren Filmproduktionen nach der Wende waren. So schreibt Cornelia Klauß über Experimentalfilme im Super-8-Format vor und nach der Wende, und Madeleine Bernstoff über den Dokumentarfilm "Berlin, Bahnhof Friedrichstraße 1990". Filmemacherin Angelika Nguyen berichtet über die geringe Produktionszeit, die sie für ihren 1991 gedrehten Dokumentarfilm "Bruderland ist abgebrannt" bekam. Für den Film, der 2021 beim Summer Special der Berlinale lief und der seit Herbst 2020 in der Online-Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildung verfügbar ist, interessierten sich nach seiner Entstehung hauptsächlich die betroffenen vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen, so die Regisseurin in ihrem Beitrag.

Schreiben über Filme - Die Vielfalt des kulturellen Gedächtnisses bewahren

Eine andere Perspektive im Buch nimmt Hilde Hoffmann ein. Die Medienwissenschaftlerin rezensiert keinen selbstproduzierten Film, sondern den Dokumentarfilm "Berlin - Prenzlauer Berg: Begegnungen zwischen dem 1. Mai und dem 1. Juli 1990" der im Juli 2012 verstorbenen Regisseurin Petra Tschörtner. Ihr Film sei ein historisch rares Dokument einer Zwischenzeit, so Hoffmann. Auch Regisseurin Therese Koppe bezieht sich mit ihrem Text auf eine andere Filmemacherin, die DEFA-Regisseurin Helke Misselwitz. Diese habe ihr durch ihre zwei Spielfilme "Herzsprung" (1992) und "Engelchen" (1996) ein fehlendes Stück Erinnerung an die DDR zurückgegeben, schreibt die 1985 in Berlin-Friedrichshain Geborene.

Zwei über das Filmemachen hinaus gehende Beiträge ergänzen dieses mit Farb- und Schwarzweißfotos und lesefreundlichem Layout gut gestaltete Buch. So reflektiert die Kulturarbeiterin Kerstin Honeit Ostberlins Entwicklung der letzten Jahrzehnte anhand ihres Lebenslaufs, der Rezension des Films "Dead Bang" (1989) und dem Abriss des "Palast der Republik". Der letzte Beitrag schließt das Buch mit dem Protokoll einer "dynamischen und zum Teil kontroversen Diskussionen", so Betty Schiel, die zum Abschluss der Filmreihe in der Kunsthochschule für Medien Köln geführt wurde.

AVIVA-Tipp: Wie wichtig Filmemacher*innen, die nicht dem Mainstream folgen, sowohl für das kulturelle, als auch für das gesellschaftspolitische Gedächtnis sind, zeigen die Beiträge in diesem Buch. Sie zeigen aber auch, dass es zur Abbildung der Vielfalt einer Gesellschaft nötig ist, über finanzielle Mittel für kulturelle Produktionen zu verfügen. Deshalb gilt den Herausgeberinnen ein großer Dank dafür, diese Diskussionen mit dieser Veröffentlichung weiterzuverbreiten.

Zur Autorin und Herausgeberin: Betty Schiel Sie studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, der Sorbonne Paris und der University of Glasgow und ist seit 1996 freiberuflich als Filmkuratorin tätig, veranstaltet Programme, Workshops und Konzeptionen für Festivals. Ebenfalls seit 1996 ist sie am Internationalen Frauen* Film Festival Dortmund+Köln maßgeblich zuständig. Sie initiiert kollaborative Videos und ist Mitglied des Transnationalen Ensemble Labsa.

Zur Autorin und Herausgeberin: Maxa Zoller ist seit 2018 künstlerische Leiterin des Internationalen Frauen* Film Fest Dortmund+Köln. 2008 erhielt sie ihren Ph.D. über Experimentalfilmgeschichte vom Londoner Birkbeck College. Als freie Filmkuratorin arbeitete sie u.a. für das EYE Filmmuseum, die Tate Modern und den Londoner Kunstraum no.w.here. 2014-2018 war sie für das Filmprogramm der Art Basel verantwortlich. Als Dozentin lehrte sie transdisziplinäre Kunst- und Filmgeschichte und Theorie an der Amerikanischen Universität Kairo, am Londoner Goldsmiths College und am Sotheby´s Institute of Art.

Zur Autorin: Therese Koppe, 1985 in Berlin-Friedrichshain geboren, arbeitet als Regisseurin und Autorin für dokumentarische Formen in Berlin und war als freie Dozentin zuletzt für das Filmbildungsprogramm Cinema en Curs und an der Londoner Southbank University tätig. Im Oktober 2019 schloss sie ihren M.F.A. Regie an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf mit ihrem Kino-Dokumentarfilm "Im stillen Laut" ab. Im Juni 2021 gründete sie mit Esther Niemeier die Produktionsfirma TILDA Films und arbeitet aktuell an ihrem Debüt-Dokumentarfilm.

Zur Autorin: Hilde Hoffmann forscht und lehrt am Institut für Medienwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum und promovierte zur Medialisierung der "Wiedervereinigung". Sie arbeitet im Filmfestival- und Kulturbereich, lehrt an verschiedenen Universitäten und ist Gastprofessorin in Wien und Minneapolis. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Film und audiovisuelle Medien, Erinnerung/Gedächtnis und Postkoloniale Medienwissenschaft.

Zur Autorin: Angelika Nguyen wuchs in der DDR als Kind deutsch-vietnamesischer Eltern auf und studierte Filmwissenschaft in Babelsberg. 1991 drehte sie den Dokumentarfilm "Bruderland ist abgebrannt" über die Lage vietnamesischer Migrant*innen in Ost-Berlin und schrieb 2011 den Essay "Mutter, wie weit ist Vietnam?" über Rassismus in ihrer Kindheit für den Sammelband "Kaltland". Als Autorin, Kuratorin und Filmjournalistin ist sie, unter anderem, tätig für telegraph.cc, Zeit Online und Jalta. Sie ist Mitstreiterin bei korientation, Netzwerk für asiatisch-deutsche Perspektiven, und im Kuratorium des Hauses für Demokratie und Menschenrechte.

Zur Autorin: Johanna-Yasirra Kluhs arbeitet als Dramaturgin mit verschiedenen Kollektiven, Regisseur*innen und Choreograf*innen im Spektrum der Freien Darstellenden Künste. 2020 co-initiierte sie das Frauen*musikfestival Future Now in Wuppertal und lco-leitete 2016-2021 das regionale Kulturprogramm Interkultur Ruhr. Sie ist Mit-Begründerin der Ost-West-AG und des Vereins KuKst DU e.V. in Duisburg.

Zur Autorin: Grit Lemke wuchs in Hoyerswerda auf und ist Autorin, Regisseurin und Kuratorin. Sie studierte Kulturwissenschaften, Ethnologie und Literatur, ihre Promotion absolvierte sie in Europäischer Ethnologie. Sie arbeitete für verschiedene Filmfestivals, so für DOK Leipzig und das FilmFestival Cottbus, wie als Lehrbeauftragte und als Autorin und Dramaturgin für Dokumentarfilme. 2019 erschien ihr Buch "Unter hohen Himmeln. Das Universum Volker Koepp", 2021 veröffentlichte sie "Kinder von Hoy", einen dokumentarischen Roman. Sie ist Regisseurin des Grimme-Preis nominierten Dokumentarfilms "Gundermann Revier" von 2019.
Die Autorin im Netz: www.gritlemke.de

Zur Autorin: Cornelia Klauß wuchs in Ost-Berlin auf und war parallel zu ihrem Studium der Filmwissenschaft an der HFF Babelsberg in der Super-8-Filmszene aktiv. Von 1990 bis 2003 kuratierte sie das Programm des Filmkunsthauses Babylon, arbeitete 20 Jahre für das Kurzfilmfestival Oberhausen und 12 Jahre für DOK Leipzig. Sie drehte Dokumentarfilme und ist Co-Herausgeberin von "Sie - Regisseurinnen der DEFA und ihre Filme" (2019). Seit 2017 leitet sie die Sektion Film- und Medienkunst an der Akademie der Künste.

Zur Autorin: Kerstin Honeit lebt in Berlin, studierte dort Bildende Kunst und Bühnenbild, und ist in den Bereichen Film und Kunst als Kulturarbeiterin tätig. Sie forscht zur Stimme als queerendes Ereignis innerhalb bewegter Bilder und vertritt zurzeit die Professur für Virtuelle Realitäten an der Kunsthochschule Kassel. Sie war an vielen internationalen Ausstellungen und Screenings beteiligt.
Die Autorin im Netz: www.kerstinhoneit.com

Zur Autorin: Ines Johnson-Spain aufgewachsen in Ost-Berlin, ist deutsch-togolesische Filmemacherin und studierte Religionswissenschaften an der Freien Universität Berlin, wie auch als Gaststudentin Malerei und Freie Kunst an der Universität der Künste. Sie arbeitete als Bühnenmalerin für Filmproduktionen und Theater, und unterrichtet Bühnenmalerei an der Filmuniversität Babelsberg.

Zur Autorin: Madeleine Bernstorff schreibt Recherche-basierte Texte, unterrichtet und organisiert Filmprogramme zum Kino der Avantgarden und Widerstandsbewegungen. 2017 produzierte sie kurze Video-Spots zum NSU-Komplex und recherchiert aktuell für ein Projekt mit dem Harun Farocki Institut. Sie ist Kommissionsmitglied der Kurzfilmtage Oberhausen.
Die Autorin im Netz: www.madeleinebernstorff.de

Betty Schiel / Maxa Zoller (Hg.)
Was wir filmten. Filme von ostdeutschen Regisseurinnen nach 1990

Herausgegeben vom Internationalen Frauenfilmfestival Dortmund Köln e.V.
Bertz + Fischer, erschienen: Oktober 2021
Paperback, 58 Fotos, 208 Seiten
ISBN-13: 978-3-86505-267-4
16,-- Euro
Mehr zum Buch unter: www.bertz-fischer.de

Weitere Infos unter:

www.frauenfilmfest.com
Aus dem Filmprogramm des Internationalen Frauen*Film Fests Dortmund+Köln vom September 2020 heraus, entstand das Buch "Was wir filmten. Filme von ostdeutschen Regisseurinnen nach 1990."

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen
Doppel-DVD, herausgegeben von der Deutschen Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen. Eine Auswahl von zehn Filmen, die in der gleichnamigen Retrospektive auf der 69. Berlinale zu sehen waren, wird auf diesen zwei DVDs präsentiert. Gedreht zwischen 1967 und 1998 von ost- und westdeutschen Regisseurinnen, reflektieren die Arbeiten den weiblichen Alltag und die Wünsche, Phantasien und Utopien von Frauen in der Zeit der zweiten Welle des Feminismus. (2020)

Lydia Lierke und Massimo Perinelli /Hg.) - Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive
Die Herausgeber*innen Lydia Lierke und Massimo Perinelli versammeln in "Erinnern stören" ein breites Spektrum von Biografien, die bei der deutsch-deutschen Vereinigung ignoriert und ausgegrenzt wurden. Gerade deshalb sind diese Erzählungen von rassistischen und antisemitischen Erfahrungen, solidarischen Kämpfen und politischem Engagement ein wichtiger Beitrag zum demokratischen Entwurf einer Gesellschaft der Vielen. (2020)

Frauen im Filmbusiness - Interview mit Grit Lemke, Leiterin des Filmprogramms DOK Leipzig
Die Gesprächspartnerinnen der AVIVA-Interviewreihe "Frauen im Filmbusiness" berichten über ihre Erfahrungen, Arbeit und Erwartungen. Grit Lemke ist seit 1991 für DOK Leipzig tätig, seit 1998 arbeitet sie auch für das Festival des osteuropäischen Films Cottbus, sie hat Lehraufträge und hält Gastvorträge, publiziert zu und arbeitet an Dokumentarfilmen. (2015)

Claudia Lenssen, Bettina Schoeller-Bouju(Hrsg.) - Wie haben Sie das gemacht? Aufzeichnungen zu Frauen und Filmen
Das Kompendium achtzig facettenreicher Erfahrungs- und Lebensgeschichten von Frauen hinter und vor der Kamera, am Schneidetisch und in der Produktion, lehnt sich bewusst an diese Insider*innen-Frage an, die auf Truffauts berühmte Befragung Hitchcocks anspielt. (2014)


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Beitrag vom 02.11.2021

Helga Egetenmeier