Judith Butler - Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen und Krieg und Affekt - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Sachbuch



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 28.05.2009


Judith Butler - Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen und Krieg und Affekt
Claire Horst

Judith Butler ist eine der wichtigsten Theoretikerinnen der Genderforschung. Ihr Buch "Gender Trouble" löste umfangreiche Debatten aus. Butler hatte darin die These aufgestellt,...




... dass Geschlecht keineswegs biologisch determiniert sei, sondern durch soziales Verhalten erst konstruiert werde. In Deutschland erschien das Werk 1991 unter dem Titel "Das Unbehagen der Geschlechter".

Butler ist heute - fast zwanzig Jahre später - ein Star der queer theory und füllt ganze Hörsäle – wie im Februar 2009 an der FU Berlin. Die Auffassung von der Performativität des Geschlechts ist in der Allgemeinheit angekommen – fast selbstverständlich geht man heute davon aus, dass Geschlechterzugehörigkeit und die passenden Rollenmuster konstruiert sind.

Noch einmal wiederholt Butler in ihrer Aufsatzsammlung "Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen" unmissverständlich ihre Definition von "Gender" als Norm: "Wenn man behauptet, Gender sei eine Norm, bedeutet das nicht dasselbe wie zu sagen, es gäbe normative Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit – wiewohl es eindeutig solche normativen Vorstellungen gibt. Gender ist weder genau das, was man ´ist´, noch das, was man ´hat´. Gender ist der Apparat, durch den die Produktion und Normalisierung des Männlichen und Weiblichen vonstatten geht". Sie plädiert dafür, von der binären Vorstellung, die das Menschliche in "männlich" und "weiblich" aufteilt, endlich abzukehren. Diese Basis überträgt Butler nun auf die Alltagspraxis. Ihr bislang beinahe hermetischer Stil ist berüchtigt – unverständlich, zu akademisch erscheinen vielen ihre Texte. Das aktuelle Buch lässt diese Einschränkung hinter sich und diskutiert konkrete Fragen.

In Einzelessays setzt Butler sich mit politischen Debatten auseinander – welche Argumentationsweise ist erfolgversprechend für den Kampf der Schwulen- und Lesbenbewegung um gleiche Rechte? Was bedeutet es für das Adoptionsrecht, wenn Verwandtschaft immer schon als heterosexuell definiert wird? Welche Rolle spielen nationalistische Argumente in der Diskussion um "Normalität"?

Im Mittelpunkt von Butlers Interesse steht hier die Gerechtigkeit – insbesondere gegenüber denjenigen, denen kein voller Subjektstatus zugestanden wird. Auf welche Weise dienen Normen zur Beschränkung der Rechte derjenigen, die nicht als "normal" empfunden werden? Insofern lassen sich ihre Erkenntnisse auf andere Bereiche übertragen, etwa auf die Rechte behinderter Menschen.

Die Autorin kritisiert den Hang der Forschung, lebenspraktische Zusammenhänge aus dem Blick zu verlieren. Ihr eigener Ansatz ist ein zutiefst humaner: Wie können Erkenntnisse der Genderforschung im Kampf um mehr Rechte behilflich sein? Anhand eines Fallbeispiels, des Lebens von David Reimer, der als Junge geboren und dann als Mädchen erzogen wurde, nachdem er durch einen Operationsfehler seinen Penis verloren hatte, analysiert Butler die einzelnen Auseinandersetzungen, die jeweils von einem Eigeninteresse gelenkt werden. Versuchte der erstbehandelnde Arzt, den alleinigen Einfluss der Erziehung zu beweisen, ging es späteren Ärzten (die die erneute Geschlechtsumwandlung Reimers´ betreuten) um einen Nachweis "biologisch" bedingter Geschlechtlichkeit. Butler geht es nicht (nur) um die Durchsetzung einer bestimmten Theorie. Stattdessen plädiert sie für das Selbstbestimmungsrecht einer jeden Person.

Stellenweise wirkt ihre Argumentation etwas unbestimmt, da sie entsprechend keine eindeutigen Aussagen über "das Wesen des Geschlechts" treffen will. Stattdessen geht es ihr um die Möglichkeit einer jeden Person, sie selbst zu sein: "Was kann ich in Anbetracht der gegenwärtigen Seinsordnung sein?"

Auch in "Krieg, Medien und Affekte" stehen individuelle Rechte im Zentrum. Der Text beruht auf einem Vortrag, den Butler an der Universität Potsdam gehalten hat. Mit Blick auf die Medienberichterstattung über die derzeitigen Kriege der USA unternimmt sie eine Neudefinition des Begriffs von der "sozialen Verantwortung", der zur Legitimation der Kriegführung genutzt wird. Dazu zeigt sie auf, wie die Angehörigen unterschiedlicher Gruppen ein unterschiedliches Maß an Anerkennung erhalten - wir beurteilen etwa einen Mord durch einen Selbstmordattentäter gewöhnlich anders als einen staatlich sanktionierten im Krieg. Die Medien sind nach Butler mit verantwortlich für diese unterschiedliche Wahrnehmung, die dazu führt, dass einige Leben schützenswerter erscheinen als andere.

In dem ebenfalls in dem Bändchen enthaltenen Interview mit der Philosophin Jill Stauffer plädiert sie für einen umfassenderen Begriff von Menschlichkeit: "Ich bin der Auffassung, dass unsere gegenwärtigen politischen Dilemmata uns dazu auffordern, neu zu bedenken, was mit dem Begriff ´Mensch` gemeint ist, so dass er weiter und umfassender und letztlich menschlicher wird – vielleicht in einer Weise, die wir gerade erst begonnen haben, uns vorzustellen."

Hier ist der Zusammenhang zwischen Butlers Gender-Forschung und der Auseinandersetzung mit der Universalität von Rechten zu finden: In beiden Fällen geht es darum, unsere Begriffe von dem, was "Geschlecht" bzw. "Mensch" bedeutet, zu verändern, um die Möglichkeit, Normen und Konventionen zu hinterfragen und zu erweitern.

AVIVA-Tipp: Sicherlich sind die beiden Bände keine neuen Standardwerke. Da es sich um Aufsatzsammlungen handelt, waren Wiederholungen nicht zu vermeiden. Dennoch ist Judith Butlers erneute Erläuterung ihrer seit Jahren vorgebrachten Thesen und deren Anwendung auf konkrete politische Fragen gewinnbringend. Ihre Kritik an ausschließenden Interpretationen von "Geschlecht" beziehungsweise "Menschlichkeit" ist erhellend und beleuchtet mögliche Handlungsweisen im Kampf gegen Ausschließungsmechanismen.

Zur Autorin: Judith Butler, geboren 1956, lehrt Rhetorik, Komparatistik und Gender Studies an der "University of California" in Berkeley.



Judith Butler
Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen

Übersetzt von Karin Wördemann und Martin Stempfhuber
Suhrkamp Verlag, erschienen März 2009
414 Seiten, Gebunden
Euro 24,80 Euro
ISBN 978-3-518-58505-4



Judith Butler
Krieg und Affekt

Herausgegeben und übersetzt von Judith Mohrmann, Juliane Rebentisch und Eva von Redecker
Diaphanes Verlag, Reihe: Kleine Reihe, erschienen März 2009
112 Seiten, Broschur
8,00 Euro
ISBN 978-3-03734-079-0

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Publikationen aus der Geschlechterforschung im Jahr 2008

–"Differenzen und Macht. Zur Anatomie von Rassismus und Sexismus" von Ina Kerner


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Claire Horst