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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 20.07.2018


Langzeitstudie im Juli 2018 erschienen: Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses
Sharon Adler

Das Thema: "Judenfeindschaft als kulturelle Konstante und kollektiver Gefühlswert im digitalen Zeitalter". Die auf umfangreichem Datenmaterial basierende Studie zeigt unter anderem: "Antisemitismen haben im Netz signifikant zugenommen und der klassische Judenhass ist vorherrschend". AVIVA meint: Die Ergebnisse sind wenig überraschend, den "Betroffenen" in allen Facetten seit Jahren bestens bekannt. Und doch: Die große Medienpräsenz auf genau diese Untersuchung zeigt endlich den dringenden Handlungsbedarf auf.




Erst kürzlich, am 26. Juni 2018, beging das "Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V. (JFDA)" sein 10-jähriges Jubiläum. In Anwesenheit von rund 200 GästInnen äußerten anlässlich des 10-jährigen Bestehens die Vorsitzende des JFDA Lala Süsskind, sowie der Sprecher des JFDA, Levi Salomon, und Samuel Salzborn, Gastprofessor am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin Hoffnungen und Forderungen.

Diskutiert wurden u.a. die Hoffnungen von Lala Süsskind darauf, "dass im Jahre 2018 ein jüdisches Forum gegen Antisemitismus nicht mehr nötig sein würde." und die Forderungen von Levi Salomon, der anlässlich des Jubiläum betonte, "(…) Die vielen antisemitischen Vorfälle in den vergangenen Monaten haben einmal mehr bewiesen, wie wichtig es ist, den Kampf gegen Antisemitismus und für die demokratische Gesellschaft aktiv zu führen."

Dem Thema Diskriminierung in Sprache und Antisemitismus im Netz widmete sich u.a. die Amadeu Antonio Stiftung bereits im Jahr 2007. AVIVA-Berlin hat dazu im Beitrag "Mit Antisemitismus und Antiamerikanismus in die Charts" berichtet. Und 2010 hatten sich 20 soziale Netzwerke des Web 2.0 unter dem Motto "Kein Byte den Nazis. Online-Kampagne Soziale Netzwerke gegen Nazis" auf Anregung von Netz-gegen-Nazis zusammengeschlossen, um ihre User*innen gegen Rechtsextremismus im Internet stark zu machen. 2017 eröffnete die ZWST eine neue Beratungsstelle für Betroffene antisemitischer Gewalt in Berlin, ein Angebot speziell für Ratsuchende nach Erfahrungen antisemitischer Gewalt, ob verbal oder körperlich, das sich durch einen niedrigschwelligen Ansatz auszeichnet.

Langzeitstudie "Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses" zur Artikulation, Tradierung, Verbreitung und Manifestation von Judenhass im digitalen Zeitalter

Unter Leitung der Kognitionswissenschaftlerin Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schwarz-Friesel, Fachgebietsleiterin der Kognitiven Medienlinguistik an der TU Berlin, hat eine Forscher*innengruppe im Rahmen der empirischen Antisemitismusforschung in der von 2014 bis 2018 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Langzeitstudie nun untersucht, wie antisemitische Inhalte über das Netz verbreitet werden, welche Typen von Antisemitismus dabei dominant sind und inwieweit alte judeophobe Stereotype im 21. Jahrhundert modern artikuliert, v.a. in der Manifestationsform des Antiisraelismus, auftreten.

In welchen Manifestationen tritt Antisemitismus im 21. Jahrhundert in Erscheinung? Welche Stereotype werden kommuniziert? Und welche Rolle spielt die emotionale Dimension beim aktuellen Judenhass?

Ihren Fokus legte die Forschungsgruppe bei der Auswertung von über 300.000 Texten insbesondere auf die Sozialen Medien und untersuchte dabei auch "Merkmale der irrationalen Affektlogik", die maßgeblich Einstellungs- und Verbalantisemitismus prägen.

Die auf umfangreichem Datenmaterial und quantitativen wie auch qualitativen Detailanalysen basierende Korpusstudie zeigt, dass Antisemitismen in den vergangenen zehn Jahren insbesondere in den Online-Kommentarbereichen der Qualitätsmedien stark zugenommen haben und dabei eine semantische Radikalisierung stattgefunden hat. In allen wesentlichen Kommunikationsbereichen des Internets hat sich judenfeindliches Gedankengut mit hoher Affektmobilisierung verbreitet.

Web 2.0 – primärer Multiplikator

Internetkommunikation zeichnet sich u.a. durch ihre Schnelligkeit, freie Zugänglichkeit, globale Verknüpfung und Anonymität aus, wodurch die ungefilterte und nahezu grenzenlose Verbreitung judenfeindlichen Gedankengutes allein rein quantitativ ein nie zuvor da gewesenes Ausmaß erreicht. Aufgrund der hohen Relevanz der Netz-Partizipation und seiner informationssteuernden, meinungsbildenden und identitätsstiftenden Funktion fördert und beschleunigt das Web 2.0 – als primärer Multiplikator und Tradierungsort für die Verbreitung von Antisemitismen – die Akzeptanz und Normalisierung von Judenfeindschaft in der gesamten Gesellschaft, so die Feststellung des Forschungsteams. "Antisemitismus ist heute in Deutschland noch immer – und seit einigen Jahren wieder zunehmend – ein besorgniserregendes Phänomen", erklärt die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel.

Die Infiltration der alltäglichen Kommunikationsräume durch judeophobe Verschwörungsphantasien und Antisemitismen zeigt sich diskursübergreifend bei Twitter und Facebook, in Blogs und Recherche- sowie Ratgeberportalen, unter YouTube Videos, in online Bücherläden, in Fan-Foren und auch in den Kommentarsektionen von Online-Qualitätsmedien. Besonders die über Twitter und Facebook verbreiteten Aufrufe, gegen Judenhass zu demonstrieren, sind innerhalb weniger Stunden infiltriert durch Texte mit zahlreichen Antisemitismen und Abwehrreaktionen. So wiesen die Facebook-Kommentare zur Kampagne #NiewiederJudenhass aus dem Jahr 2014 rund 38 Prozent Antisemitismen auf, von denen 47 Prozent klassische Stereotype kodierten: "Weil Bild den Juden gehört heisst noch lange nicht das mann diese Verbrecher von Juden nicht Hassen soll!!!!"

Die Omnipräsenz von Judenfeindschaft ist somit integraler Teil der Webkommunikation 2.0, die durch multimodale Kodierungen in Texten, Bildern, Filmen und Songs das Sag- und Sichtbarkeitsfeld für Antisemitismen signifikant vergrößert und intensiviert hat.

Alltägliche Antisemitismen der User*innen

Die Studie zeigt, dass die alltäglichen Kommunikationsprozesse der nicht-extremistischen Alltagsuser*innen in den sozialen Medien verantwortlich für die Verbreitung von Judenfeindschaft sind. Die Antisemitismen der User*innen weisen trotz unterschiedlicher politischer oder ideologischer Einstellungen eine große Uniformität und Homogenität in der Stereotypkodierung und Argumentation auf, was auf den Einfluss der im kulturell-kollektiven Gedächtnis verankerten Muster judenfeindlicher Konzeptualisierungen zurückzuführen ist. Das alte Phantasma des "Ewigen Juden" ist dominant.

Auch der muslimische Antisemitismus ist mit 53 Prozent stärker von klassischen Stereotypen des Judenhasses geprägt als von israelbezogenen Feindbildkonzepten mit 35 Prozent. Es ist zu konstatieren, dass die klassische Judenfeindschaft mit einem Mittelwert von über 54 Prozent insgesamt die primäre konzeptuelle und affektive Basis des aktuellen Judenhasses ist.

Anti-judaistische Stereotype aus dem Mittelalter und Konzepte des Rassenantisemitismus bilden eine Symbiose mit dem israelbezogenen Judenhass, der mit über 33 Prozent eine vorherrschende Ausprägungsvariante ist und mit hohem Emotionspotenzial kommuniziert wird. Die "Israelisierung der antisemitischen Semantik" zeigt sich dabei auch in Themenfeldern, die in keiner Relation zum Nahostkonflikt oder zu Israel stehen. Gleichzeitig sind massive Abwehr- und Relativierungsstrategien integraler Bestandteil des antisemitischen Diskurses, was durch den Einfluss der Post-Holocaust-Bewertung von Antisemitismus zu erklären ist.

"Der israelbezogene Judenhass ist dabei tendenziell auf dem Weg, ein ´politisch korrekter Antisemitismus´ zu werden, da ihm in Zivilgesellschaft, Politik und Justiz der geringste Widerstand entgegengesetzt wird. Da dieser Hass nachweislich auf den Stereotypen der klassischen Judenfeindschaft basiert, besteht allgemein die Gefahr einer weiteren Verbreitung und Normalisierung von Antisemitismus", konstatiert die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel.

Die Forschung baut auf dem Projekt "Aktueller Antisemitismus in Deutschland" auf, in dem an der TU bereits die an den Zentralrat der Juden und die Israelische Botschaft in Berlin gesendeten E-Mails und Briefe von der Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel und dem Historiker Jehuda Reinharz analysiert wurden. Die Ergebnisse dieser Studie sind in ihrem Buch "Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert" veröffentlicht. Erschienen ist es bereits 2012 bei De Gruyter. 2015 erschien von Monika Schwarz-Friesel der Sammelband "Gebildeter Antisemitismus. Eine Herausforderung für Politik und Zivilgesellschaft" (Nomos Verlag). Er präsentiert neueste Forschungsergebnisse zum gebildeten Antisemitismus in der deutschen Gegenwartsgesellschaft durch Beiträge führender Antisemitismusforscher*innen.

Das neue Forschungsprojekt konzentriert sich auf judenfeindliche Kommunikationsformen in den Sozialen Medien und in den online-Kommentarbereichen der Qualitätspresse, da das Internet der Alltagsuser*innen mittlerweile das Hauptverbreitungsmedium für aktuellen Antisemitismus ist.

Fazit AVIVA-Berlin: Diese Studie ist längst überfällig. Sie belegt, mit welchen Stereotypen, die über das weit Erträgliche hinausgehen, Jüdinnen und Juden im Web tagtäglich leben müssen. Es bleibt zu hoffen, dass die Ergebnisse dieser Studie neben der großen medialen Resonanz auch die Urheber*innen des verbalen Antisemitismus´ erreichen.

Die Ergebnisse der Studie stehen zum Download zur Verfügung unter:
www.linguistik.tu-berlin.de

Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schwarz-Friesel
TU Berlin
Fachgebiet Allgemeine Linguistik
Tel.: 030/314 23219

Organisationen, Initiativen und Handlungsempfehlungen gegen Antisemitismus:

Amadeu Antonio Stiftung: www.amadeu-antonio-stiftung.de und www.facebook.com/AmadeuAntonioStiftung

Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V. (JFDA): jfda.de, auf Facebook: fb.com/juedischesforum, Twitter: twitter.com/JFDA_eV, Youtube: www.youtube.com, Instagram: www.instagram.com/jfda_ev

Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS)
c/o Verein für Demokratische Kultur in Berlin e.V. (VDK): www.report-antisemitism.de/berlin und auf Facebook: www.fb.com/AntisemitismusRechercheBerlin

Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment (ZWST): zwst-kompetenzzentrum.de

Anne Frank Zentrum e.V.: www.annefrank.de

Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus KIgA e.V.: www.kiga-berlin.org

Die Handlungsempfehlungen des "Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus" sind online unter:

www.bundestag.de

Die zentralen Forderungen des "Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus" sind online unter:

www.bundestag.de

Mehr Infos zum Thema:

Das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG, Stand: 7. September 2017) finden Sie unter:
www.bmjv.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V. (JFDA) begeht 10-jähriges Jubiläum
Mit einer Feier im Festsaal des Rathauses Charlottenburg hat das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V. (JFDA) am 26. Juni 2018 zusammen mit rund 200 GästInnen sein 10-jähriges Bestehen gefeiert. Lala Süsskind, die Vorsitzende des JFDA, Levi Salomon, Sprecher des JFDA und Samuel Salzborn, Gastprofessor am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin äußern Hoffnungen und Forderungen. Eine Bestandsaufnahme. (2018)

ZWST eröffnet neue Beratungsstelle für Betroffene antisemitischer Gewalt in Berlin
Mit der neuen Beratungsstelle soll ein Angebot speziell für Ratsuchende nach Erfahrungen antisemitischer Gewalt geschaffen werden, das sich durch einen niedrigschwelligen Ansatz auszeichnet. (2017)

Zahl gemeldeter antisemitischer Vorfälle in Berlin bleibt hoch
Im Jahr 2016 erfasste die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) 470 antisemitische Vorfälle in Berlin. Die Zahl der registrierten Vorfälle ist damit gegenüber dem Vorjahr (2015: 405 Fälle) um 16 % angestiegen. Die Zahl der von Antisemitismus Betroffenen hat sich gegenüber dem Vorjahr verdoppelt. (2017)

Kooperation will Antisemitismus sichtbar(er) machen und den Betroffenen zur Seite stehen
Das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) e.V. und die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) des Vereins für demokratische Kultur in Berlin (VDK) e.V. ermutigen Jüdinnen und Juden darin, antisemitische Vorfälle zu melden. (2016)

Hass ist keine Meinung. Nicht mal im Internet
Unter diesem Motto launcht das #NoHateSpeech Movement seine Webseite mit einem Online-Flashmob gegen Hass im Netz am 22. Juli 2016. So will die Initiative langfristig Strukturen für aktives Engagement gegen Online-Hetze schaffen. (2016)

"#NichtEgal - Initiative gegen Hass im Netz
Hasskommentare nehmen in den sozialen Netzwerken zu. Am 19. September 2016 startete Youtube eine bundesweite Kampagne, mit der sie die positiven und toleranten Stimmen im Netz verstärken und zeigen will, dass Hass im Netz #NichtEgal ist. (2016)

Bericht antisemitischer Vorfälle in Berlin 2017 vorgelegt: Anzahl der Vorfälle bedenklich
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) legte am 18. April 2018 ihren Bericht antisemitischer Vorfälle für das vergangene Jahr vor. Für 2017 hat RIAS insgesamt 947 antisemitische Vorfälle in Berlin erfasst. Im Jahr 2016 wurden 470 antisemitische Vorfälle in Berlin registriert, im Jahr 2015 waren es 405 Fälle. (2018)

Kein Byte den Nazis. Online-Kampagne Soziale Netzwerke gegen Nazis
20 soziale Netzwerke des Web 2.0 haben sich auf Anregung von Netz-gegen-Nazis zusammengeschlossen, um ihre UserInnen gegen Rechtsextremismus im Internet stark zu machen. Es geht darum, nicht wegzusehen, Position zu beziehen und das Internet nicht zu einem Raum verkommen zu lassen, in dem Persönlichkeitsrechte und Menschenwürde keinen Wert mehr haben. Mit Linkliste zu weiteren Initiativen. (2010)

Zentralrat der Juden bereitet Klage gegen Google und YouTube vor
Hakenkreuzvideos und brauner Sumpf auf YouTube. Stephan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland geht mit einstweiliger Verfügung bei Hamburger Gericht gegen die US-Firma vor. (2008)

"Mit Antisemitismus und Antiamerikanismus in die Charts"
Immer mehr rechtsextreme und verfassungsfeindliche Inhalte finden bei Internetportalen wie youtube und myspace Verbreitung und gelangen so ungefiltert in die Kinderzimmer und Schulen. (2007)

Hinweis in eig. Sache: Die Linkliste "Initiativen und Handlungsempfehlungen gegen Antisemitismus" spiegelt eine zum Zeitpunkt der Veröffentlichung aktuelle Auswahl von AVIVA-Berlin (kein Anspruch auf Vollständigkeit).


Quelle: TU Berlin Medieninformation Nr. 146/2018 vom 18. Juli 2018


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Beitrag vom 20.07.2018

Sharon Adler