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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 14.11.2019


Barbara Newhall Follett – die Frau, die verschwand
Bärbel Gerdes

Was für eine Geschichte! Mit 4 Jahren begann sie, erste Texte auf der Schreibmaschine zu schreiben. Mit 12 Jahren erschien ihr erstes Buch. Mit 13 reiste sie als "Schiffsmädchen" nach Nova Scotia. 1939 verließ Barbara Newhall Follett mit 30 Dollar und einem Notizheft ihr Apartement und ist seitdem unauffindbar.




Es ist der Illustratorin Jackie Morris zu verdanken, sie mit uns bekannt zu machen. Barbara Newhall Folletts erstes Buch The House Without Windows erschien 1927. Mit Illustrationen und einem Vorwort versehen, hat Jackie Morris es in diesem Jahr erneut herausgegeben.

Es ist ein Kinderbuch: ein Mädchen namens Eepersip lebt mit ihren Eltern in einem kleinen Cottage und fühlt sich sehr einsam. Einzig der Garten und die darin lebenden Tiere bereiten ihr Freude. Doch bald wird ihr dieser abgegrenzte Bereich zu klein. Eines Julitages packt sie einen kleinen Picknickkorb, stiehlt sich aus dem Haus und läuft. Sie kommt an einem Bach vorbei, sie hört einen Pirol singen, sie atmet Lavendel und entdeckt ein Vogelnest mit winzigen weißen Eiern. Eepersips Einsamkeit nimmt ab, sie fühlt sich frei und glücklich wie die Schmetterlinge. Sie freundet sich mit einem Reh und seinem Kitz an und tanzt über die Wiesen. Natürlich beginnen ihre Eltern, sie zu suchen. Sie locken, sie versuchen, sie zu überwältigen, sie lauern ihr auf und bringen Verstärkung mit – doch Eepersip, das furchtlose und unabhängige Mädchen, das die Wiesen, das Meer, die Berge liebt, entkommt jedes Mal. Sie will in einem Haus ohne Fenster leben, in der Wildnis, in der Natur.

Das Besondere an diesem Buch ist, dass es geschrieben wurde, als Barbara 12 Jahre alt war. Bereits mit vier Jahren stahl sie die Schreibmaschine ihres Vaters aus seinem Arbeitszimmer und begann, erste Geschichten und Gedichte zu schreiben. 1914 in New Hampshire geboren, wuchs sie als Tochter einer Lehrerin, Essayistin und Literaturkritikerin und eines Lehrers auf, die sie zu Hause unterrichteten. Barbara Newhall Follett sollte im Unterricht ihre eigenen Interessen verfolgen können, hauptsächlich die Natur und die Landschaft um sie herum.

Barbara war ein einsames Kind. Sie hatte kaum FreundInnen, doch ihre lebhafte Phantasie und die Freundschaften zu lebenden und ausgestopften Tieren halfen ihr darüber hinweg.
1922 erfand sie den Planeten Farksolia und entwickelte die Farksoo-Sprache. In zwei Karteikästen stellte sie ein Wörterbuch zusammen. Natur, Freiheit und Unabhängigkeit sind bereits in diesem jungen Alter ihre Hauptthemen, die sie ihr Leben lang nicht verlassen werden.

Mit acht Jahren schreibt sie das Buch The House Without Windows. Es sollte ein Geschenk für ihre Mutter sein, das sie an Barbaras neuntem Geburtstag erhalten sollte. Aufgrund einer Erkrankung verpasste sie diesen Termin um einige Tage, aber 40.000 Wörter waren geschrieben.

Wenige Tage später brach ein Feuer in der Küche des Hauses aus. Die Familie konnte sich gerade noch retten, doch das Manuskript verbrannte.
Barbara ließ sich nicht entmutigen. Täglich setzte sie sich hin und rekonstruierte ihren Text. 1926 war die Geschichte wieder vollständig und Barbara 12 Jahre alt. Ihr Vater gab das Manuskript dem Verleger Alfred Knopf zu lesen, der so beeindruckt war, dass er einer Veröffentlichung zustimmte. Ein Jahr später erschien das Buch in einer Auflage von 2500 Exemplaren, die bereits zwei Wochen vor Erscheinen ausverkauft war. Es wurde ein Bestseller, der in der New York Times, der Saturday Review of Literature und in The American Girl besprochen wurde. Es sei ein Buch, das draußen gelesen werden müsse, schreibt Jackie Morris in ihrem Vorwort, dies sei sein natürliches Habitat. Es sei ein wildes Buch, voller Freude, Licht, Luft.

Barbara Newhall Follett plante sofort ein neues Buch, das vom Meer und von Segelschiffen handeln sollte. Doch hierzu musste sie selbst Erfahrungen sammeln. Sie bearbeitete ihre Eltern so lange, bis diese zustimmten: Barbara heuerte als Schiffsmädchen auf einem Dreimastschoner auf dem Weg nach Nova Scotia an und schrieb darüber das Buch The Voyage of the Norman D., das 1928 ebenfalls von Knopf verlegt wurde.

Im gleichen Jahr erlitt sie einen Schock: ihr Vater, mit dem sie eng verbunden war, wollte die Scheidung. Zehn Jahre lang brach seine Tochter den Kontakt zu ihm fast vollständig ab. Doch statt in Trauer unterzugehen, schlug sie ihrer Mutter ein Seeabenteuer vor. Sie reisten nach Barbados, segelten durch den Panama-Kanal nach Tahiti, zu den Tonga-Inseln und Samoa.

Ihrer Mutter Helen und Barbara ging das Geld aus. Helen zog sich zurück, um mit einem Buch über ihre Reisen Geld zu verdienen, während Barbara das erste Mal eine öffentliche Schule besuchen sollte. Doch sie floh.
Schließlich zog sie mit ihrer Mutter in eine Hütte in Vermont, wo sie an ihrem nächsten Buch Lost Island arbeitete, das jedoch unveröffentlicht blieb. Dort lernte sie den Studenten Nickerson Rogers kennen und lieben. Mit ihm reiste sie durch Europa. 1933 kamen die beiden in Nicks Heimatstadt Boston zurück und heirateten. Nick arbeitete als Ingenieur, Barbara als Sekretärin.

Doch Barbara Newhall Follett vermisste ihre Abenteuer, ihre Reisen, die Wildheit der Natur. Dennoch sei sie nicht unglücklich gewesen, schreibt ihr Großneffe Stefan Cooke, der sich des literarischen und biographischen Erbes Newhall Folletts angenommen hat. Sie begann Ausdruckstanz in Mary Starks´s Dance Workshop Group und Nick und sie mieteten eine Hütte in New Hampshire, wo sie Ski fuhren und wanderten.
Während Nickerson Rogers immer mehr arbeitete und Karriere machte, brach Barbara mit FreundInnen zu einer dreiwöchigen Kanutour in der Wildnis Kanadas auf.
Im Sommer 1939 erfährt sie, dass Nick eine Affäre hat und gibt sich selbst die Schuld dafür. Sie verspricht, sich zu ändern. Nick ist nicht überzeugt: er glaube nicht, dass ein Leopard seine Flecken ändern könne.

Im Dezember 1939 verlässt Barbara Newhall Follett ihr Appartement mit 30 Dollar und einem Notizbuch. Seitdem ist sie verschollen. Menschen suchten sie und durchsuchten ihre Archive nach Spuren. Mord wurde vermutet, Selbstmord, Flucht - oder einfach ein guter Zaubertrick? In ihren Texten geht es stets um Flucht.

Jackie Morris empfiehlt den LeserInnen, sich nicht daran zu beteiligen, sondern sie in ihren Büchern zu suchen.
Vielleicht verschwand Barbara Newhall Follett genauso wie ihre Protagonistin in The House Without Windows:
Sie würde stets für alle Sterblichen unsichtbar sein, außer für diejenigen, die Seele hatten zu verstehen, Augen, um zu sehen. Für diese ist sie immer gegenwärtig, der Geist der Natur – eine Elfe der Wiesen, eine Naiade der Seen und eine Nymphe der Wälder. (Übersetzung d. Rezensentin)

Mehr zu Barbara Newhall Follett und ihrem Buch: www.farksolia.org
Stefan Cookes umfangreiche Sammlung biographischer und literarischer Informationen mit kostenlosem Download von The House Without Windows: sites.google.com/site/thehousewithoutwindows

Bücher von Barbara Newhall Follett
The House Without Windows (1927)
The Voyage of the Norman D. (1928)
Rocks (ca. 1931, unveröffentlicht)
Lost Island (1930-34, unveröffentlicht, geplant für Ende 2019)
Travels Without a Donkey (1934, unveröffentlicht)
Mothballs in the Moon (ca. 1934, unveröffentlicht)

Zur Illustratorin: Jackie Morris wurde 1961 in Birmingham geboren. Sie wuchs in Evesham, Worcestershire, England auf. Schon mit sechs Jahren entschloss sie sich, Künstlerin zu werden, was jedoch von der Schule und von ihren Eltern vollkommen torpediert wurde. Auch am College in Hereford und Exeter wurde ihr gesagt, dass sie es niemals schaffen würde, eine Illustratorin zu werden. Morris flüchtete zur Bath Academy of Art und lebte anschließend für kurze Zeit in London. Sie illustrierte Bücher und Zeitschriften (u.a. für The Guardian, The Independent, New Statesmen) und entwarf Kalender für Greenpeace und Amnesty International. Kurz nachdem sie nach Wales gezogen war, erschien ihr erstes Buch Jo´s Storm (1994, gemeinsam mit Caroline Pitcher). Eine kleine Auswahl ihrer selbst geschriebenen und illustrierten Bücher sind East of the Sun and West of the Moon (2013), The Snow Leopard (2007) und The Quiet Music of Gently Falling Snow (2016). Jackie Morris wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Tir na n-Og Award und der Books are my Bag Reader´s Award für Lost Words. Die Künstlerin lebt in Wales.
Ausführliche Informationen auf Jackie Morris´ Website: www.jackiemorris.co.uk

Barbara Newhall Follett
The House Without Windows

Introduced and illustrated by Jackie Morris
Hamish Hamilton, erschienen am 3. Oktober 2019
240 Seiten
ISBN 9780241389812
ca. Euro 14,00
Mehr zum Buch: www.penguin.co.uk


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Beitrag vom 14.11.2019

Bärbel Gerdes