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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 31.10.2006


Danielle de Picciotto im Interview - Mountains Of Madness
Tatjana Zilg

Anlässlich der DVD-Release sprach AVIVA-Berlin mit der Wahlberlinerin und Multi-Künstlerin über die Projektentstehung, Lovecraft, die Zusammenarbeit mit Alexander Hacke und ihre vielseitige Vita




The Tiger Lillies sind eine britische, schwarzhumorige Band, die mit einer Melange aus Varieté, Oper und Zigeunermusik ihr Publikum fasziniert. Unter der Regie der Berliner Kunst- und Musikszene-Lieblinge Danielle de Picciotto & Alexander Hacke entwickelten sie eine eindringliche, innovative Bühnenperformance zu Ehren des Kult-Autors H.P. Lovecraft Zu Lebzeiten kaum bekannt, ist er heute weltweit hochanerkannter Meister des Makaberen und gehört zu den bedeutendsten Klassikern der unheimlichen Literatur.
Danielle de Picciotto entwarf filigrane, schaurig-humoristische Bühnenillustrationen. Die Aufzeichnung der Weltpremiere von "Mountains Of Madness" am 18. August 2005 in der arena Berlin ist jetzt als DVD erhältlich.

AVIVA-Berlin: Wann haben Sie die Tiger Lillies zum ersten Mal im Konzert gesehen? Wie haben sie spontan auf Sie gewirkt? Hatten Sie sofort Bilder zu ihrer Musik im Kopf?
Danielle de Picciotto: Ich habe die Tiger Lilllies zum ersten Mal 2002 in San Francisco gesehen - dort spielten sie Stücke, die sie zu Geschichten von Edward Gorey (einer meiner Lieblings-Zeichner) komponiert hatten. Ihr Stück "Schockheaded Peter" sah ich danach in London - allerdings mit der Pere Ubu Besetzung - und war von der Inszenierung überwältigt. Die Musik, die Texte und das Bühnenbild haben mich sofort begeistert. Die Mischung aus dunkler Zirkuswelt, aneckender Lebensphilosophie, schwarzem Humor und grandios erzählten Geschichten "is my cup of tea".
Wenn ich im Atelier arbeite, höre ich oft all Ihre Platten hintereinander. Ihre Texte und Atmosphären erinnern mich immer wieder an das für mich Wesentliche: dem Außenseiter. Diese Welt suche ich in meinen Bildern auszudrücken - so kann man die Musik der Tiger Lillies und meine Zeichnungen als Spiegelbilder der gleichen Idee in unterschiedlichen Techniken betrachten.

AVIVA-Berlin: Was hat Sie an der Biografie von H.P. Lovecraft beeindruckt?
Danielle de Picciotto: Edgar Allen Poe war einer meiner ersten Lieblingsschriftsteller. Mit acht Jahren hatte ich all seine Geschichten gelesen und erzählte sie gerne meinen jüngeren Geschwistern, um sie bei langen Autofahrten still zu halten.
Lovecraft habe ich erst viel später entdeckt - begeistert wurde ich wieder Kind und konnte, genauso wie damals, mit dem Lesen nicht mehr aufhören. Die eigenartigen verlorenen oder vertauschten Seelen - inmitten einsamer, verlassener Architektur oder Bergketten mit beängstigenden Höhlen - Themen, in denen ich mich gerne verliere.
Die Tatsache, dass er Providence Rhode Island nie verlassen und nicht im 18.Jahrhundert, sondern in den 20ern gelebt hat , ist erstaunlich.

AVIVA-Berlin: Sie haben schon sehr viele Projekte zusammen mit Alexander Hacke gemacht? Was schätzen Sie besonders an der Zusammenarbeit mit ihm?
Danielle de Picciotto: Mit Alexander Hacke habe ich eine verwandte Seele entdeckt - wir begeistern uns für die selbe Musik und Kunst - haben einen ähnlichen Humor und haben das Glück, uns gegenseitig immer wieder anstoßen zu können. So jemanden zu finden ist ein Glücksfall. Alexander hat durch die 25jährige Zusammenarbeit mit den Einstürzenden Neubauten nicht nur eine sehr professionelle Art zu arbeiten. Er kennt sich außerdem in unterschiedlichsten internationalen Sparten der Undergroundmusik, Kunst oder Literatur aus und ist viel gereist. Da ich als Armeekind in den USA , Paris & Deutschland aufgewachsen und Reisen gewohnt bin, kommt mir dies sehr entgegen - wir haben ein ähnliches Unabhängigkeitssyndrom...

AVIVA-Berlin: War es schwierig, die Regie zu zweit zu führen? Gab es auch konträre Ideen? Wie haben Sie sich dann entschieden?
Danielle de Picciotto: Da Alexander Hacke , die Tiger Lillies und ich sehr oft unterwegs sind mit unseren unterschiedlichen Projekten, mussten wir das Experiment wagen, unabhängig von einander das Stück vorzubereiten. Ich habe diese Arbeitsweise schon immer bevorzugt - ich fühle mich unwohl, wenn ich alle Bereiche bestimmen oder dirigieren muss. Ich versuche stattdessen, mit sehr zuverlässigen, professionellen Menschen zu arbeiten, mit denen ich mich instinktiv verstehe und deren Geschmack meinem ähnlich ist. So kann man vertrauen anstatt zu kontrollieren - kann aber gleichzeitig auch ziemlich sicher sein, dass man nicht enttäuscht wird. In diesem Fall haben Alexander und ich den Tiger Lillies unsere Lieblingsgeschichten von Lovecraft geschickt und haben sie gebeten, dazu Lieder zu schreiben. Ich habe währenddessen die Geschichten illustriert und Alexander elektronische Soundscapes vorbereitet. Das erste tatsächlich gemeinsame Treffen war dann eine Woche vor der Aufführung. Alle waren sehr nervös und aufgeregt und die Erleichterung dann umso größer als wir relativ schnell merkten, dass unsere Zusammenarbeit funktioniert und das Ergebnis alle begeisterte.
Alexander und ich haben uns außerdem um die praktischen, logistischen und technischen Details gekümmert und haben auch da gegenseitig Aufgaben verteilt - jeder hat das gemacht was er am besten kann. Wenn man weiß, dass alle Künstler während der Vorbereitungszeit durchgehend weltweit auf Tournee waren, hat das ganze erstaunlich unkompliziert geklappt.

AVIVA-Berlin: Sie haben auch an der DVD "Live im Palast der Republik 2004" von den Einstürzenden Neubauten mitgearbeitet. Worin sehen Sie Vor - und Nachteile, CDs und DVDs im Supporter-System zu veröffentlichen? Meinen Sie, dass dieses System sich zu einer wirksamen Alternative zur Musikindustrie entwickeln könnte oder funktioniert das nur im Ausnahmefall?
Danielle de Picciotto: Ich finde das Supporter Projekt der Einstürzenden Neubauten www.neubauten.org faszinierend und betrachte es als ein Zukunftsmodel für Künstler - vor allem als Denkanstoss. Ich habe über das ganze Projekt eine Dokumentation gedreht (Einstürzende Neubauten-on tour with neubauten.org) und bin auch in dessen dritten Phase, nach wie vor, von der tatsächlichen Effektivität beeindruckt, den Künstler mit dem Endabnehmer zu verbinden. Es haben sich daraus viele Freundschaften und neue Arbeitsprojekte entwickelt - abgesehen davon, dass die Einstürzenden Neubauten mehrere Platten, DVDs und Touren damit finanzieren konnten. Ich merke auch insgesamt, dass Künstler immer mehr lernen das Internet für sich zu nutzen und bin mir sicher, dass da noch ganz andere Sachen auf uns zu kommen. Die letzte geniale Idee von der ich gehört habe, waren Internet Musikfestivals in Ländern (wie z. B. im Iran) in denen Musik verboten wird.

AVIVA-Berlin: Haben Sie als Kind gerne Horrorgeschichten gelesen? Haben Sie ein Faible für die dunklen Seiten des Lebens?
Danielle de Picciotto: Das geheimnisvoll Mystische zieht mich an - das "Ungreifbare" wie Lovecraft sagen würde. Horror ist ja sehr vielseitig auslegbar - ich finde es immer wichtig, Humor oder positive Mystik dabei zu spüren Während der Zusammenarbeit von "Berge des Wahnsinns" hat Humor auch eine große Rolle gespielt .Alexander Hacke hat die unaussprechliche Größe und Mysterie der Götter mittels seiner Soundscapes und Martyn Jaques mit Hilfe der Songtexte die Angst und Verlorenheit des Menschen mit viel Humor ausgedrückt. Diese "dunklen Seiten" werden dadurch greifbarer und bieten sogar eine Art von Trost.

AVIVA-Berlin: Sie haben eine sehr vielfältiges künstlerisches Portfolio. Was war als Kind Ihr Traumberuf? War es schwer, Ihre Ziele gegenüber Ihrer Umgebung durchzusetzen?
Danielle de Picciotto: Ich hatte als Kind keinen Traumberuf - da ich schon immer gemalt oder Musik gemacht habe, war es eine logische Schlussfolgerung, damit Geld zu verdienen. Ich glaube, man kann sich den Beruf Künstlerin nicht aussuchen - die Auseinandersetzung damit fängt schon in der Kindheit an und lässt einen nicht mehr los. Manchmal kommt es mir wie ein Feuer spuckendes Monster vor, das mir im Nacken sitzt - unermüdlich, ohne Gnade. Es ist kein leichter Beruf - es gibt keine Richtlinien außer dem eigenen Instinkt, es gibt keine Sicherheit - weder im Künstlerischem noch im finanziellen. Um seine Ziele zu erreichen - d.h. seine Kunst verstanden zu sehen und damit überleben zu können - gibt es keine wirklichen Hilfsmittel. Nur das Monster im Nacken - es lässt einem keine Ruh...Andererseits erlaube ich es mir, die Themen und Künstler auszusuchen, mit denen ich arbeite und empfinde es als großes Glück mit Ihnen zusammen ein "Werk" zu kreieren aus dem ich, und hoffentlich auch andere, Kraft und Glück schöpfen können. Es ist nach wie vor schwierig, als Künstlerin ernst genommen zu werden - dies kann man bei unzähligen Ausstellungen, Filmfestivals und Literatursymposien erleben, bei denen sehr wenig vorgestellt werden. Deswegen finde ich gegenseitige Unterstützung sehr wichtig.

AVIVA-Berlin: Gibt es KünstlerInnen, deren Artwork Sie in zukünftigen Projekten gerne gestalten würden?
Danielle de Picciotto: Ich würde sehr gerne Geschichten von Carson Mc Cullers, Flanner O´Conner, Zadie Smith oder Katherine Dunn illustrieren.

AVIVA-Berlin: An welche Projekte aus Ihrer bisherigen Vita denken Sie besonders gerne zurück?
Danielle de Picciotto: Ich habe in den 90ern intensiv mit Gudrun Gut zusammengearbeitet - wir haben gemeinsam Musik komponiert, Rauminstallationen kreiert, Hörspiele entworfen, Videos und Fotosessions gemacht und unzählige Events organisiert, bei denen wir auch aufgetreten sind. Es war meine erste enge Zusammenarbeit mit einer anderen Künstlerin und ich empfand sie als wunderschön leicht und ernst zugleich.
Die erste Love Parade die ich zusammen mit Dr Motte organisiert habe, ein Austauschprojekt mit dem Goethe Institut in Hong Kong, "Kunst oder König" in Senske und "Kunst oder Königin" in der Arena waren weitere Highlights.
Im Juni 2006 habe ich eine Workshop Tour durch Bosnien zusammen mit Alexander Hacke gemacht - die Energie meiner ganzen Erfahrung dort zu vermitteln war ein neuer Weg, den ich gerne weiter verfolgen würde.

AVIVA-Berlin: Ist Ihre kreative Arbeitsweise sehr unterschiedlich, je nachdem, ob Sie gerade Illustrationen, Musik oder Performance-Kunst entwerfen? Ist es sehr schwierig, so ausgesprochen interdisziplinär zu arbeiten?
Danielle de Picciotto: Ich empfinde die unterschiedlichen Künste als unterschiedliche Techniken. Man kann z. B. mit der Musik interaktive, emotionelle Themen sehr gut ausdrücken. Mit der Malerei geht es bei mir eher um sehr persönliche, stille Themen, im Film kann man sie alle wunderbar im Chor erleben - so wende ich instinktiv die jeweilige Kunst an, die mir bei einem Thema als Ausdrucksvollste erscheint. Ich bin ein Körper der aus vielen unterschiedlichen Organen (Musik, Malerei, Film etc. ) besteht. Jedes Organ ist gleichwichtig, hat aber eine andere Funktion, die dem Körper Ausdruck gewährt. Diese Arbeitsweise ist auf meinem Instinkt gebaut - ich lasse mich leiten - es ist sehr einfach und natürlich so zu arbeiten.

AVIVA-Berlin: Ihre Werke erinnern oft an die surrealistischen Künstlerinnen aus den Zwanziger Jahren. Arbeiten Sie in ähnlicher Weise, lassen Sie sich sehr vom Unbewussten inspirieren?
Danielle de Picciotto: Die Zwanziger Jahre liebe ich natürlich sehr - die Aufbruchsstimmung sowohl in Berlin wie Paris haben mich in vielerlei Hinsicht inspiriert. Neue Wege einzuschlagen, Regeln zu brechen, Konventionen zu hinterfragen - immer wieder von Vorne anzufangen...Dies sind auch die Gründe, warum ich in den 80ern von NY nach Berlin gezogen bin. Hier gibt es viele Künstler/innen ,die sich mit ähnlichen Themen beschäftigen. Der Underground, das Unbewußte spielen dabei natürlich eine große Rolle.

AVIVA-Berlin: Gibt es konkrete Pläne für zukünftige Projekte?
Danielle de Picciotto: Ich arbeite gerade an einer großen Ausstellung für nächstes Frühjahr, einem Dokumentarfilm über ungewöhnliche Künstler/Innen und bereite einen Stummfilm vor.

AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Interview!

Lesen Sie auch unsere Rezension zu der DVD "Mountains Of Madness".

Danielle de Picciotto und ihre Arbeiten im Netz: www.danielledepicciotto.de



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Beitrag vom 31.10.2006

AVIVA-Redaktion