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Beitrag vom 19.03.2015
Sie haben versucht, uns umzubringen, wir haben überlebt, lasst uns essen. Gaby Steiner und Talin Bahcivanoglu und ihr jüdisch-armenisches Dialog-Koch-Projekt
Talin Bahcivanoglu
Die Catering-Unternehmerin und die Politikwissenschaftlerin und angehende Ethnologin diskutieren darüber, was es heißt, Jüdin oder Armenierin zu sein in der Diaspora. "In der Emigration ...
... verliert man als erstes die Sprache und als letztes das Kochen," diese These der feministischen jüdischen Theologie-Professorin Norma Baumel ist ein perfektes Leitmotiv für ihr Projekt.
Vom Kochen als Mittel zum Dialog erzählen die Initiatorinnen nun auf AVIVA-Berlin.
Die geteilte Erfahrung von Vertreibung und Genozid
Unser Gedanke war es, im Rahmen einer Werkstatt mit Jüdinnen und Armenierinnen unsere gemeinsamen kulturellen und sozialen Bezugspunkte zu diskutieren und uns über unsere Erfahrungen als Angehörige von Minderheiten in der Mehrheitsgesellschaft auszutauschen. Beide Gruppen befinden sich nicht nur in einer ähnlichen historischen Situation, sondern teilen darüber hinaus vergleichbare Lebensumstände. Beide Gruppen sind von einer vergleichbaren historischen Erfahrung geprägt – bei den Armeniern ist es der Völkermord Anfang des 20. Jahrhunderts, bei den Juden der Völkermord in der NS-Zeit. Dies bestimmt sowohl die eigene Identität als auch die gesellschaftliche Wahrnehmung als Opfer.
Die Werkstatt sollte die Möglichkeit eröffnen, sich mit der eigenen Stellung in der Gesamtgesellschaft und in den eigenen Gruppen auseinander zu setzen. Wir wollten einen Austausch über die gesammelten Erfahrungen und das entstandene Wissen anregen. Es sollte auch ein Raum sein, um gegenseitige Verurteile abzubauen: Denn, nur weil die Armenier Opfer eines Völkermord geworden sind, bedeutet das nicht, dass sie keinen Antisemitismus kennen.
Das multikulturelle Istanbul als Inspirationsquelle
Auf die Idee, gemeinsam zu kochen, kamen wir auf einer Reise nach Istanbul. Wir Frauen aus Deutschland wollten Istanbul von einer anderen Seite kennen lernen, aus der Perspektive der nichtmuslimischen Minderheiten. Denn es gibt auch ein jüdisches Istanbul, ein armenisches Istanbul und ein griechisches Istanbul.
In Istanbul hatten wir Gelegenheit, griechische und armenische Spezialitäten zu kosten und gingen auch zum "Levi-Restaurant", dem einzigen öffentlich zugänglichen, das eine koschere Küche anbietet. Beim Probieren aus den geöffneten Kochtöpfen, die vor uns standen, fragten wir uns, warum wir diese Tradition und Kultur nicht nach Berlin tragen können?
Wir hatten ein Mittel gefunden, um zwei fremde Personen zu einem Dialog zusammenführen zu können, die vorher keine Bezugspunkte hatten. Kochen als Mittel zum Dialog erschien uns als eine wunderbare Technik.
Die Anfänge: Austausch über religiöse Feste, Austausch von Rezepten
2009 sind wir zum ersten Mal in einer Restaurantküche in Berlin-Kreuzberg zusammengekommen, unter dem Dach von Bet Debora. Da die Veranstaltung kurz vor Pessach und Ostern stattfand, stellten wir uns gegenseitig die jeweilige Feiertagsküche vor und tauschten uns über die Bedeutung der beiden religiösen Feste aus.
Wir stellten in einer Ecke einen Pessachtisch zusammen und in der anderen einen armenischen Ostertisch. Die Festtagstafeln sollten miteinander kommunizieren, ihre Geschichten erzählen und ihre Erinnerungen mit uns teilen. Wir scharten uns um die Tische herum, lauschten dem Erzählten und probierten die Speisen.
Kochen als Mittel zum Zweck: Kommunikation mit Unbekannten
Der gedeckte Tisch ist für Juden und Armenier ein Ort der Emotionalität und der Verbundenheit mit der Religion und der Tradition. Er dient als Verbindungsglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Ich-Identität wird am Tisch beim gemeinsamen Essen zu einer Wir-Identität.
Essen und Trinken waren auch das Zeichen zur Besieglung eines Vertrages. Am Ende eines Krieges fand der Abschluss eines Friedensvertrages an der Tafel beim Essen und Trinken statt. Familienfeste sind auch eine Zusammenkunft um den Esstisch. Hochzeiten sind nicht nur die Vermählung von zwei Menschen, sondern die Verbindung von zwei Familien: Auch der Ehevertrag wird am Esstisch besiegelt. Früher haben die Frauen der Familien, die das der Hochzeitsfest organisiert haben, das Essen selber vorbereitet, gemeinsam gekocht und den Tisch gedeckt. Den Abschluss einer Taufe, einer Bar Mizwa /Bat Mizwa symbolisiert das gemeinsame Essen. Auch die Trauer, der Abschied eines Menschen von seinem irdischen Dasein, wird immer mit einem Essen zelebriert, mit dem Lieblingsessen des Verstorbenen. Essen ist ein Ort, der tiefe Empfindungen auslösen kann. Ein Ort der Glücksverheißung, weil man den gedeckten Tisch und das Essen auf dem Tisch mit schönen und guten Erinnerungen verbinden kann.
Das Abendmahl mit Jesus ist ein Bestandteil der religiösen und kulturellen Tradition der europäischen Kunstgeschichte. Das Bild des gedeckten Tischs war nicht nur eine Allegorie, sondern darüber hinaus ein Symbol für Pracht und Reichtum des Hauses. Auch bei der Vorbereitung und dem Zelebrieren eines Schabbat-Mahls genießt die Familie die sinnlichen und angenehmen Elemente des Lebens.
Nach dem gemeinsamen Kochen und Essen erzählten wir Geschichten darüber, Jüdin zu sein, Armenierin zu sein in der Diaspora, in der Fremde einzig und allein mit den Kräutern, die wir mitnehmen konnten, die uns bis zu diesem Tag begleiten.
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Kulinarisches Treffen vom 9. März 2009. Eva Nickel erklärt das Pessachfest, Gaby Steiner zeigt eine Scheibe Kren. © Talin Bahcivanoglu |
Wir setzten uns mit der Vergangenheit und der Geschichte der Länder auseinander, aus denen wir kochen. Jüdisch-marokkanische Küche traf armenisch-persische Küche, irakisch-jüdische Küche hat auch die georgische-armenische Küche getroffen. Wir verglichen nicht nur die Gewürze und Kochbedingungen, sondern auch die Kultur und Lebensbedingungen der Juden und Armenier in den jeweiligen Ländern.
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Kulinarisches Treffen vom 9. März 2009. Armenischer Ostertisch. © Talin Bahcivanoglu |
Geteilte historische Erfahrung: Der tägliche Kampf ums ÜberlebenEssen und Kochen stehen für Jahrhunderte der Erfahrung und der Weitergabe von Wissen der Frauen an die nächste Generation. Viele Rezepte sind verloren gegangen durch Vertreibung und Genozid, viele Frauen starben, ohne ihr Wissen weitergeben zu können.
Jedes Aroma ist eine Reise – die Entdeckung der kulinarischen VielfaltKochen emotionalisiert. In unserem Kochdialog umarmen sich Frauen, wenn sie feststellen, dass ihre Mütter auf die gleiche Art und Weise gekocht haben wie ihre Koch-Nachbarin. Sie gehen zwischen den Tischen herum, naschen und probieren von den Tellern und fühlen sich glücklich. Sie möchten mitkochen und ihre Kochkünste zeigen, die auch die Kochkünste ihre Mütter und Großmütter sind, sie demonstrieren beim Kochen den Reichtum ihrer Kultur und Tradition. Sie beginnen über ihren Alltag zu reden, über ihre Erfahrungen, ihre Sorgen und Ängste. Gemeinsames Kochen baut Nähe auf, man plaudert über Persönliches und Verschüttetes, und es entsteht für die Dauer des Kochens und Essens ein kleiner intimer Raum.
Kulinarische Brücken auch für SkeptikerBis heute haben wir jede Teilnehmerin "erwischt", jeden Skeptiker, jede Person, die uns als Spinnerinnen belächelt hat. Wir haben sie vom kulinarischen Dialog mit der ältesten überlieferten Technik der Menschheit überzeugen können. Jeden Teilnehmer bzw. jede Teilnehmerin, die aus Neugier oder Lust am Kochen zu uns kamen, entließen wir mit kulinarischen Rezepten.
Und die Frauen wie auch die wenigen Männer, die mit uns kochten, begannen beim Kochen, ihre Erinnerungen mit uns zu teilen. Sie erinnerten sich an früher, an Spezialitäten und an die Köstlichkeiten ihrer Mütter und Großmütter. Wir weckten in den Teilnehmern Erinnerungen und bauten kulinarische Brücken zwischen Armeniern und Juden.
Unsere kulinarische Reise wollen wir auch in Zukunft fortsetzen, neue Speisen und Köstlichkeiten entdecken, Geschichten erzählen, mitmachen, gemeinsam kochen nicht nur als Mittel zum Dialog, sondern auch als Lernprozess. Inzwischen bereiten wir uns auf das 6. Kochevent vor.
Das Dialogtreffen gibt uns die Gelegenheit, den Brunnen am Dorfrand zu ersetzen: Unter dem Vorwand, ein paar Äpfel oder Nüsse zu borgen, in Wirklichkeit aber um kurz dem häuslichen Alltag zu entfliehen, vielleicht heimlich zu rauchen und einen Kaffee zu trinken, neueste Nachrichten zu hören, Sorgen und Nöte mit anderen zu teilen, eine frohe Botschaft zu übermitteln.
Wo gekocht und gegessen wird, entstehen Freundschaften, weil wir es so haben wollen. Kochen ist ein Ort der Erinnerungen und der Kommunikation.
Die Autorinnen:
Gaby Steinerwurde 1948 in Wien geboren, 1952 übersiedelte ihre Familie nach Jerusalem, 1953 in einen Moshav (Dorf) bei Ashkelon. 1968 kehrte Gaby Steiner nach Europa zurück, heiratete und wurde Mutter zweier Kinder. Zunächst kochte sie für Veranstaltungen der jüdischen Frauengruppe WIZO (Women´s International Zionist Organisation), seit 1998 ist sie selbständig im Catering tätig.
Talin Bahcivanoglustudierte Politische Wissenschaften am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität in Berlin und Sozialarbeit an der Fachhochschule Frankfurt am Main sowie in Marseille. Studienaufenthalte führten sie nach Irkutsk, Ulan-Bator und Peking.
Als Auszeichnung für das Projekt "Vorbilder machen Mut" erhielt sie 2006 den Preis "Berliner Tulpe für den deutsch-türkischen Gemeinsinn".
Seit 2009 organisiert sie gemeinsam mit Gaby Steiner in Berlin die jüdisch-armenischen kulinarischen Dialoge in Kooperation mit Bet Debora, einer Initiative für Frauenperspektiven im Judentum. Talin Bahcivanoglu forscht und schreibt über Visuelle Kommunikation und Kulturelles Gedächtnis.
Ein langer Bericht zu dem Kochprojekt erschien bereits in:Bet Debora Journal. Tikkun Olam – Der Beitrag jüdischer Frauen zu einer besseren Welt. Für die Erlaubnis zum Abdruck danken wir Lara Dämmig von
Bet Debora und Dr. Nora Pester vom Verlag
Hentrich & Hentrich.
"Lokale Geschichte(n) Charlottenburg-Wilmersdorf" wird gefördert durch:Copyright Text: Talin Bahcivanoglu
Copyright Fotos von Gaby Steiner und Talin Bahcivanoglu: Sharon Adler