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AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 - Beitrag vom 14.08.2014


Heritages Exchange: ExDress
Adi Liraz, Sanija Kulenovic

Wir, zwei Berlinerinnen, Adi Liraz und Sanija Kulenovic, verweben unsere kulturellen Hintergründe durch interaktive Performances und Interventionen in symbolische, jüdisch-muslimische Geflechte








Adi: Meine Vorfahren sind vor dem Zweiten Weltkrieg in den Nahen Osten geflohen, als sich Juden in Osteuropa mit dem Davidstern auf einem Armband ausweisen mussten. Ich bin ein freiwilliger Flüchtling. Ich habe meine Heimat verlassen im Wunsch, den dortigen Ungerechtigkeiten zu entfliehen und die Fäden zu finden, die mich zu meinem kulturellen Erbe und meiner(n) Geschichte(n) verbinden werden.

Sanija: Ich wurde zwar in Berlin geboren, aber ich stamme aus Bosnien-Herzegowina und musste vor etwa 20 Jahren fliehen, als der Krieg in der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik ausbrach. Die Konfliktlinien wurden entlang der religiös definierten Gruppen gezogen. Ich erlebte, wie meine, muslimische Ethnie, sich mit Armbinden auszuweisen gezwungen wurde.

Adi: Als ich nach Berlin gezogen bin, habe ich meinen Mann kennengelernt, der ursprünglich aus Afghanistan stammt. Die Identität unserer beiden Kinder versuchen wir immer wieder zu definieren – als deutsch, jüdisch und afghanisch. Meine Kunst ist seit langem bemüht, zwischen unterschiedlichen Identitäten zu kommunizieren.
Seit einigen Jahren benutze ich in meinen Kreation Faden und Garn. Mein Projekt Ring knitting Circle in der Berliner Ring Bahn schafft eine neue Gemeinschaft, indem wir in der S41 durch Berlin kreisen, während wir stricken. Jede und jeder ist eingeladen aus der Privatheit herauszutreten und an der gestrickten Kreatur in dem öffentlichen Raum mit dem eigenen Faden anzuknüpfen, die Form die ihm gefällt zu stricken, die eigene Geschichte(n) mit jener der anderen TeilnehmerInnen zu verweben. Außerdem versuche ich Kommunikation zwischen MigrantInnen von verschiedenen Hintergründen (die Anderen in der Gesellschaft) durch künstlerische Aktionen zu fördern. Als Sanija mich nach einer Anti–Kriegs-Demo um ein Treffen bat, sagte ich sofort zu.

Trauma und Kunst

Sanija:
Mich berührt Adis Kunst. In ihrem Ring knitting Circle bleiben die individuellen Geschichten im Kunstwerk nebeneinander aufbewahrt. Ganz anders als es die offizielle Geschichte, fast immer jene der Sieger, handzuhaben pflegt. Sie ist immer ein wenig verlogen und verschweigt was ihr zuwider läuft. Die Armbinden, die in Prijedor, einer Stadt im Nordosten Bosniens, die Ethnien besonders markierten, werden heute von der dortigen Stadtverwaltung verleugnet und aus der Geschichte verbannt. Doch sie wird deutlich in den ehemaligen Konzentrationslagern und den rund 60 Massengräbern um die Stadt herum. Aber den Betroffenen wurde es verboten, der entsetzlichen Geschehnisse öffentlich zu gedenken. Ihre Geschichten werden abgestritten und unterdrückt. Dabei wäre für die Einzelnen als auch für das Kollektiv entscheidend, einen sozialen Rahmen zu haben, in welchem sie ihr Leid kundtun können, und es als anerkannt erfahren dürfen, um überhaupt damit beginnen zu können, das Trauma zu überwinden.

Es ist längst bekannt, wie wichtig eine adäquate Erinnerung für die Heilung der Gesellschaft nach einer gewaltsamen Vergangenheit ist. Als Angehörige einer Volksgruppe, welche Ausgrenzung, Vertreibung und Genozid überlebt hat, fühle ich mich Menschen mit ähnlichen Erfahrungen verbunden – besonders Juden und Jüdinnen, aufgrund meiner europäischen Herkunft und meines Wohnsitzes in Deutschland. So widme ich mich seit Jahren den Stolpersteinen in meiner Stadt.
Als ich Adi kennenlernte, ermutigte mich dies, eine künstlerische Form für diese Traumata zu suchen. Ich sah Adi performativ Gemeinschaften bilden und wollte in einem Kleid auftreten, welches die Geschichte und das Erbe des bosnischen Leidensweges widerspiegelte, während sie diese Geschichte mit Faden und Garn in ein Netz der Anteilnahme zu verweben sucht.

Adi: Als Sanija mit der Idee kam, zusammen eine Performance zu gestalten, habe ich einen gemeinsamen Faden zwischen unserer(n) Geschichte(n) gespürt. Wir haben beide das Anliegen, mit einer künstlerischen Performance die Begrenzungen der Sprache zu überwinden und Traumata zu thematisieren. Die Prijedor-Geschichte hat mich an die Situation in dem damaligen Europa und dem heutigen Nahen Osten erinnert.
Ich komme aus einer Gesellschaft des Post-Trauma. Um damit und dem Schmerz, den ich über das Leid meiner ersten Heimat durchlebe, umzugehen, geht es in meiner Kunst, um die Wiedergeburt der Sprache, in einer nonverbalen Form.
Von Sanijas Geschichte bewegt, entscheide ich, mir ein Kleid zu stricken, gebildet aus meiner Geschichte, die ich mit der von Sanija verbinde. Meinen Rollen als Frau, Mutter und Immigrantin bilde ich damit ein Kostüm. So, wie es mich bedeckt und schützt, begrenzt es mich auch.

Das Projekt ExDress: gemeinsame Fäden

Sanija & Adi:
Unser Projekt nannten wir ExDress
In unserer Performance am Tag des weißen Armbandes trug Sanija ein Kleid aus weißen Armbändern und traditionellen bosnischen Kopftüchern. Die Armbänder sind die direkte Verbindung zur verordneten Unterscheidung gemäß dem Dekret von Prijedor vom 31. Mai 1992 in verschiedene Ethnien und deren anschließender Vernichtung in Lagern.
Die Kopftücher sind Metaphern für die muslimische Kultur – bezeichnenderweise war die große Mehrheit der zivilen Opfer dieses Krieges muslimisch.
Adis Exil, ihre Geschichte(n) und die Verbindungen zu ihren beiden Heimaten strickt sie eigenhändig in ihr Kleid aus Wollgarn hinein. Ihr Mitgefühl für das Leid der bosnischen Frauen von denen Tausende in Vergewaltigungslagern im letzten Krieg waren, drückt sie in der Performance ebenso aus.
Während Sanija mit schwarzer Kohle endlos viele Striche auf dem Boden schrieb, zog Adi den roten Faden aus ihrem Kleid und verband die ZuschauerInnen/TeilnehmerInnen mit dem Kleid der Bosnierin. Symbolisch verband sie das den Künstlerinnen gemeinsame Erbe mit dem Publikum und kreierte eine neue Komposition, bis ihr Kleid sich darin auflöste.



Wir stehen beide im Bezug zu geteilten Gesellschaften, in denen der Schmerz der Anderen nicht in die offizielle Geschichte eingehen kann, sondern unterdrückt wird. Wir leben und arbeiten in Berlin, wo wir durch unseren jüdischen beziehungsweise muslimischen Hintergrund, durch unserer Geschlecht und durch unsere Entscheidung, Mütter zu werden, auf mehrfache Weise Ausgrenzungen erfahren. Die weibliche Erfahrung des Schmerzes und seine Überwindung spielt bei der Performance eine Rolle, so wie die Erfahrung vom Gefangensein in einer Art Kostüm, welches es der Frau nicht erlaubt, die zu sein, die sie wirklich ist.

Wenn sich Adis rotes Kleid im übertragenen Sinne in Venen verwandelt, die die TeilnehmerInnen und Künstlerinnen verbindet, und diese symbolischen Blutgefäße anschließend durchgeschnitten werden, so entsteht das Bild sowohl einer Befreiung des Individuums, als auch der Lösung von einer Vergangenheit, die an uns haftet und die immer mit einem schmerzhaften Prozess verbunden ist.
Dies sind die Themen von ExDress, denen gleichzeitig eine neue Konstruktion entgegengesetzt wird, welche alle, einschließlich der ZuschauerInnen/TeilnehmerInnen, miteinander verbindet, und die auch ihre Geschichten miteinander verknüpft.
Zwei Kleider wurden miteinander verbunden und verwandelt, gleichzeitig das Publikum in einer neu gewebten Struktur umfangen. Dabei konnten die ZuschauerInnen, wie im Inneren zweier kollidierter Welten am verkörperten Erbe beider Künstlerinnen und ihrer traumatischen Erinnerungen teilnehmen.



Gemeinsame Pfade

Adi:
Sanija und ich haben uns entschieden, zur 100-Jahresfeier des Attentats von Sarajevo, welches als Auslöser für den Ersten Weltkrieg angesehen wird, dorthin, nach Bosnien, zu fahren und unser Projekt dort weiterzuentwickeln.
Bei der Ankunft in Sarajevo erkenne ich, dass hier, in dem ehemals sozialistischen Land, anders als in Deutschland gebaut wurde. Auch anders als in dem Land aus dem ich komme. Nur die Minarette kenne ich aus meiner heimatlichen Architekturlandschaft.
Als wir die Stadt erreichen, finde ich aber noch mehr Ähnlichkeiten: Die kulturelle Vielfalt, die Altstadt, das Essen und auch die Menschen. Ich fühle mich wie zuhause, aber gleichzeitlich kann ich auch sehr deutlich das Post-Trauma spüren. Fast in jedem Gebäude sind Einschusslöcher und die Menschen sind manchmal hoffnungslos, manchmal sind sie fast jungfräulich in ihrer Art, das Leben anzunehmen. Ich sehe viele Ähnlichkeiten zu dem, was ich von meinen Vorfahren kenne, und fühle mich sehr schnell dem Ort verbunden, obwohl ich die Sprache nicht verstehe.

Um unser Projekt fortzuführen, reisen wir weiter.



Sanija: Nach Sarajevo besuchten wir Mostar, wo die Synagoge seit sechs Jahren darauf wartet, wiederaufgebaut zu werden. Aber die berühmte Alte Brücke wurde rekonstruiert. Auf diesem Meisterwerk des 16. Jahrhunderts performten wir einen Tag nach dem Attentats-Gedenktag. Wir konzentrierten uns auf das Leiden, das der Erste Weltkrieg in alle Lager brachte. Er schuf so eine Gemeinschaft, ungeachtet der Feindschaften: die Gemeinschaft im Leid. Die Motive zum Krieg sind im Vergleich zu dem, was er vernichtet, immer nebensächlich. Aber wir müssen Jahrhunderte danach mit seinen Folgen leben.



Adi und ich verweben unsere Wollkleider mit der Alten Brücke, dem Zeichen der Überwindung und Verbindung getrennter Seiten eines Flussbetts. Wenn die tobenden Identitäten unser Alltagskleid zerreißen, werden wir aus dem Garn, das von ihm bleibt, ein neues Netz weben, das uns alle umfängt. An jedem Ort, den wir beschreiten.

Adi & Sanija: Egal wo wir hingehen, wir nehmen uns selber mit. Unsere Herkunft bleibt an uns haften. Dort wo unser Samen hinfällt, wo er zu wachsen und gedeihen fähig ist, ist unser Land. Wir sind beide aus Ländern voller islamischer, christlicher und jüdischer Einflüsse, die sich in uns kreuzen und befruchten. Wir haben uns gefunden und verbunden in einem neuen Land, wo wir beide fruchtbar sind, durch neues Leben und durch unsere Kreationen.

Biographien



Sanija Kulenovic erforscht die Schnittstelle zwischen Kunst und Trauma. Sie befasst sich mit Themen der Identität, des kulturellen Erbes, der Erinnerungskultur, der forensischen Kunstwerke, und der Versöhnung. Sie glaubt, dass Kunst von besonderem Potenzial ist, um "Gesellschaften im Übergang" zu helfen, ihre gewalttätige Vergangenheit zu überwältigen. Kulenovic hat einen Abschluss in Kunstgeschichte (Magistra philosophiae) von der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Österreich. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Adi Liraz ist eine multidisziplinäre Künstlerin, Kuratorin und Kunstproduzentin. In ihren Werken werden die Hauptthemen Feminismus / Postfeminismus, Craftivism, Migration und Urbanität, oft im Zwiespalt von Intimität und Öffentlichkeit ausgetragen. Das Ziel der Schöpfungen Liraz´ ist es, durch Provokation hegemonialer Wahrnehmungen eine Kommunikation anzuregen. Liraz hat einen BFA von der Bezalel Academy of Art and Design, Jerusalem (2001) und einen MA in Raumstrategien: Kunst im öffentlichen Raum von der Kunsthochschule Berlin Weißensee (2014). Liraz lebt und arbeitet in Berlin seit März 2003.

Mehr Informationen zum Projekt, das stetig weitergeführt wird, unter: exdress-blog.tumblr.com

Kontakt: exdress.berlin@gmail.com


Copyright Fotos von Sanija Kulenovic und Adi Liraz in Mostar: Sanija Kulenovic und Adi Liraz
Copyright Foto von Sanija Kulenovic und Adi Liraz im Studio: Sharon Adler
Copyright Fotos von Sanija Kulenovic und Adi Liraz in der Naunynstraße: Sharon Adler und Shlomit Lehavi


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Beitrag vom 14.08.2014

AVIVA-Redaktion