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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 07.05.2012


Pinar Selek - Halbierte Hoffnungen
Undine Zimmer

Eine Apotheke ist mehr als ein Medikamentenlager. In dem Roman der in der Türkei verfolgten Aktivistin Pinar Selek wird sie zum Sehnsuchtsort. Hier werden Komplotte geschmiedet, dürfen heimliche ...




... Liebschaften sich offenbaren. Menschlichkeit wird verkörpert in der Gestalt des gutmütigen und weisen Apothekers. Der kleine Laden in Yedikule, ein Stadtteil von Istanbul, ist ein Ort der glücklichen Kindheit, der nach einigen Schicksalsschlägen zum Ort der Hoffnung wird.

Pinar Selek hat sich an einigen Stellen selbst in ihren ersten Roman eingeschrieben. Ihre Hauptfigur, Elif, das junge Mädchen mit den vielen Sehnsüchten, wird an einigen Stellen nicht unter ihrem Namen, sondern als "Ich" schreiben. Das "Ich" benutzt die Autorin, wenn die Sehnsucht nach dem Geliebten, nach der Familie, nach der Heimat am größten ist. Autobiographisch ist der Roman dennoch nicht. Pinar Selek ist immer noch im Exil, jetzt nicht mehr in Deutschland, sondern in Frankreich. Von einem Zuhause, einem Ort der Kindheit, Heimat und Sehnsucht vereint, wie die Apotheke in ihrem Buch, ist sie weit entfernt. Noch immer ist ihr Fall vor dem türkischen Gerichtshof nicht endgültig entschieden, das Urteil nach jahrelangen Verhandlungen nicht aufgehoben, das der Autorin, Soziologin und politischen Schreiberin die Rückkehr in ihre Heimat unmöglich macht.

In ihrem Roman "Halbierte Hoffnungen" lässt Pinar Selek alle Stimmen der Gesellschaft sprechen. Sie schreibt aus dem stream of consciousness reflektierter Intellektueller, RevolutionärInnen und trauriger Ehefrauen, ebenso wie aus dem Gedankenfluss der Prostituierten Hande, die, innerlich fluchend, nur darauf wartet, dass ihre Kunden endlich fertig werden.

So sehnsüchtig Pinar Selek die Gemeinschaft in der Heimat beschreibt, so behutsam aber bestimmt legt die Autorin, wie schon in ihrem Vorgänger "Zum Mann gehätschelt zum Mann gedrillt. Männliche Identitäten", ihre Worte in die Wunden der türkischen Gesellschaft. Und zeigt auf grobe Ehemänner, Bevormundung, soziale Ungleichheit, Vorurteile und ethnische Konflikte zwischen Türken, Griechen, Kurden, Armeniern, die bis heute noch nicht aufgearbeitet sind. Was ihre Hauptfiguren treibt, ist der Wunsch nach Veränderung. Die Geschichte spielt 1980 nach dem Militärputsch und die kleinen Herausforderungen des Dorfalltags spiegeln die politischen Träume der jungen Erwachsenen, die sich nach Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit sehnen.

"Halbierte Hoffnungen" zeichnet weniger die politischen Ereignisse seiner Zeit nach, als das Innenleben seiner Figuren. Es kreuzen sich die Liebesgeschichten zweier junger Paare, einer Vater-Sohn und einer Vater-Tochter Geschichte. Es geht um Familienehre, um die Frage wer wen heiraten darf, ob man eine falsche Hochzeit ungeschehen machen kann und um selbstbewusste Frauen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen.

Der Roman ist eine Liebeserklärung von Pinar Selek an ihre Heimat. Er will hinter die Vorhänge einer Türkei schauen, die die meisten nur aus dem Pauschalurlaub kennen. Tiefe Furchen sichtbar machen, die sich durch das Land ziehen. Wer nicht zur Mehrheit gehört, wer politisch ist, tut wohl daran sich zu verstecken. Das erfährt auch Elif, die sich den RevolutionärInnen im Untergrund anschließen will, um endlich etwas zu verändern in ihrem drögen Land. Die Polizei verfolgt sie und bringt viele ihrer Mitstreiter um.

Doch die Großherzigen sind die Stärkeren in Pinar Seleks halbierten Hoffnungen. Am Ende siegen die Toleranz und die Zivilcourage und auf der letzten Seite sagt ein alter Mann zu einer jungen Heimkehrerin "Ich mag deine Märchen, Sema. Sie gehen gut aus." Vielleicht hat Pinar Selek diese Szene geträumt und träumt immer noch davon, dass sie eines Tages heimkehren wird wie ihre Heldin und ihre Angehörigen und FreundInnen dort auf sie warten werden.

AVIVA-TIPP: Halbierte Hoffnungen erzählt die Geschichte von ungleichen Paaren, die nicht ohne Weiteres zueinander gelangen können. Es sind gesellschaftliche, ethnische, moralische Gründe, die sie trennen, es ist der Ort Yedikule, der sie verbindet. Mit jedem Detail, das Pinar Selek beschreibt, holt sie sich die Heimat näher und lässt das Dorf auch für ihre Leserinnen zu einem idyllischen und zu gleich melancholischen Sehnsuchtsort werden. Wer sich durch die streckenweise lange Familiensaga liest und den Überblick über die ProtagonistInnen nicht verliert, kann in ein vielschichtiges Gemälde eintauchen, gemalt in zarten Strichen und warmen Farben.

Zur Autorin: Pinar Selek wurde 1971 in Istanbul geboren. Die studierte Soziologin bezeichnet sich selbst als politische Aktivistin und Feministin. Sie ist dafür bekannt Tabuthemen anzupacken, wie ihre publizierten Recherchen über Transsexuelle, Straßenkinder, SexarbeiterInnen und Konflikte mit KurdInnen und ArmenierInnen beweisen. Seit 1998 steht sie unter Terrorverdacht und kämpft gegen diese Vorwürfe an. Obwohl sie bereits zweimal freigesprochen wurde, soll im August 2012 eine weitere Verhandlung stattfinden. Für ihr Sachbuch "Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt." wurde Pinar Selek 2010 vom türkischen PEN-Zentrum mit dem Duygu-Asena-Preis ausgezeichnet. Derzeit schreibt "Pinar Selek" in Straßburg an ihrer Doktorarbeit.

Pinar Selek
Halbierte Hoffnungen

Orlanda Verlag, erschienen November 2011
400 Seiten
ISBN: 978-3-936937-87-9
24,50 Euro

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Beitrag vom 07.05.2012

Undine Zimmer