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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 08.10.2015


Kirsten Achtelik - Selbstbestimmte Norm. Feminismus
Claire Horst

Achtelik ist Journalistin und engagiert sich an der Schnittstelle von queerfeministischer und Behindertenbewegung. In ihrem ersten Buch problematisiert sie die Berufung auf Selbstbestimmung...




... als Argument im Kampf um die Legalisierung der Abtreibung.

Denn, so die Autorin, wenn das Recht auf Selbstbestimmung uneingeschränkt eingefordert werde, laufe es Gefahr, gegen das Lebensrecht von Menschen mit Behinderung ausgespielt zu werden. Selbstbestimmung darf nicht auf völlige Individualisierung hinauslaufen, schreibt sie, und nicht in selektive Praxen münden.

Wie sie zu dieser These und ihrer streitbaren Forderung gelangt, Pränataldiagnostik dürfe keine Kassenleistung mehr sein, stellt sie anhand eines historischen Abrisses der Frauenbewegung sowie der Behindertenbewegung in der BRD dar. Gemeinsame Ziele finden dabei ebenso Raum wie zentrale Konflikte: Frauen mit Behinderung beklagten schon zu Beginn der zweiten Frauenbewegung, nicht mitgedacht zu werden. Umgekehrt gab es auch in der "Krüppelbewegung" Proteste gegen den Sexismus männlicher Aktivisten.

Detailliert legt Achtelik die historische Entwicklung der bundesdeutschen Gesetzgebung zur Abtreibung dar und zeigt die Problematik der Indikationslösung auf. Historische Zusammenhänge wie die Euthanasieprogramme der Nationalsozialisten lässt sie dabei ebenso wenig außen vor wie die Tatsache, dass in Deutschland aufgrund dieser Geschichte eine "eugenische Indikation" kein Abtreibungsgrund ist, anders als in den meisten anderen Ländern. Erst eine zu erwartende Belastung für die Frau gilt als akzeptierte Indikation, was zumindest in der Sprachregelung einen Unterschied bedeutet.

Auch höchst kontroverse Themen spricht sie an, wie das ihr zufolge teilweise praktizierte "Liegenlassen" von schon lebensfähigen Föten, die eine Spätabtreibung überlebt haben. Deutlich wird: Solche Fragen dürfen weder rechten "LebensschützerInnen" überlassen werden, die damit gegen Abtreibung hetzen, noch den AnhängerInnen des populären Utilitaristen Peter Singer, der Kindern mit schwerer Behinderung jegliches Lebensrecht abspricht.

Dass die immer größeren Möglichkeiten der Pränataldiagnostik keineswegs unbedingt zu einer Beruhigung der Schwangeren führen, sondern im Gegenteil oft in eine unendliche Spirale der immer genaueren Abklärung und zu dem trügerischen Gefühl, völlige "Sicherheit" herstellen zu können, stellt Achtelik dem abnehmenden Verständnis für Menschen gegenüber, die sich für ein behindertes Kind entscheiden. Und selbst um sich gegen all die Untersuchungen zu entscheiden, sei einiges an Vorwissen nötig: "Das Recht auf Nichtwissen kann heute nur mit einer gehörigen Portion Wissen durchgesetzt werden." Wer schwanger war oder ist, weiß, wovon die Autorin spricht – das Drängen der Ärztin, doch noch eine (selbstverständlich extra abgerechnete) Untersuchung wahrzunehmen, kennen fast alle werdenden Schwangeren.

Statt das Recht auf Abtreibung und die Kritik an Pränataldiagnostik gegeneinander auszuspielen, fordert Achtelik, beides zusammen zu denken. Sie tritt ebenso für die Streichung des § 218 und Legalisierung der Abtreibung – unabhängig von einer Diagnose – ein wie für die Abschaffung einer standardisierten Pränataldiagnostik: "Die Frage ‚Kann eine Feministin konsistent für ein Recht auf Abtreibung, aber gegen selektive Abtreibung eintreten?‘ muss mit einem klaren Ja beantwortet werden. Die Position ist auf die einfache Formel zu bringen, dass eine Frau* die Möglichkeit haben muss, eine Schwangerschaft, die sie nicht will, abzubrechen. Ist eine Schwangerschaft aber angenommen, kann das angenommene ‚Kind‘ nicht wieder ‚zurückgegeben‘ werden. Einmal geht es darum, dass die Frau* kein Kind haben möchte, im anderen Fall möchte sie dieses ‚Kind‘ nicht mehr bekommen – wegen gewisser diagnostizierter Eigenschaften. Das macht den ganzen Unterschied."

Der ermutigendste und zugleich utopischste Teil ihres Buches ist das letzte Kapitel, in dem sie ihre Vision beschreibt: "Wenn die Mehrfachbelastungen sowie gesellschaftliche und eigene Perfektionserwartungen Schwangere dazu bringen, sich ein möglichst pflegeleichtes Kind zu wünschen, kann unsere Antwort nur sein: Umsturz aller Verhältnisse, in denen wir, unsere Lieben und alle anderen pflegeleicht sein müssen! Für ein Zulassen von Schwäche, Ambivalenzen, Unlust und Kaputtheit! Gegen die Idee der perfekten, strahlenden, immer einsatzbereiten Mutter! Gegen die Illusion des gesunden, perfekten, talentierten, superschlauen und immer freundlichen Kindes!"

AVIVA-Tipp: Leichter gesagt als getan, das ist Achtelik bewusst. Und dennoch lohnt sich der Kampf: nicht nur gegen AbtreibungsgegnerInnen, sondern auch gegen ein soziales Klima und gegen eine Gesetzgebung, die dazu führt, dass Menschen mit Behinderung schon aus ökonomischen Gründen nur noch als Störfaktor wahrgenommen werden. Trotzdem bleibt ein ungutes Gefühl. Denn die Grundfrage bleibt: Ist es in keinem Fall legitim, sich gegen ein Kind mit Behinderung zu entscheiden? Wird nicht erneut Druck auf Frauen aufgebaut, wenn Selbstbestimmung als egoistisches Prinzip konstruiert wird? Dagegen hilft auch wenig, dass die Autorin am Schluss schreibt, individuelle Entscheidungen für PID dürften nicht verurteilt werden.

Dass die Autorin sich vor allem als Aktivistin begreift, wird an dem umfangreichen Anhang deutlich. Hier finden sich Adressen von Organisation, die für das Recht auf Abtreibung kämpfen, ebenso wie von politischen Selbstvertretungen von Menschen mit Behinderungen.

Zur Autorin: Kirsten Achtelik, geboren 1978, ist Diplom-Sozialwissenschaftlerin und lebt als freie Journalistin und Autorin in Berlin. Sie ist politisch an den Schnittstellen der feministischen, antikapitalistischen und Behindertenbewegung aktiv. (Verlagsinformationen)

Kirsten Achtelik
Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung

Verbrecher Verlag, erschienen 2015
Taschenbuch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-95732-120-6
18,00 Euro

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Beitrag vom 08.10.2015

Claire Horst