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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 08.08.2012


Kathrin Hartmann - Wir müssen leider draußen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft. Verlosung
Katarina Wagner

Deutschland scheint es gut zu gehen: die Arbeitslosenquote sinkt, die Wirtschaft wächst – aber auch die Schere zwischen Arm und Reich, ... AVIVA verlost 3 Bücher




… vergrößert sich während die Mittelschicht schrumpft und immer weniger Menschen von ihrer Arbeit leben können. In genauen Analysen beschreiben die zwei Autorinnen, wie hierzulande und weltweit nach dem neoliberalen Motto "Jeder Mensch ist seines Glückes Schmied" die soziale Verantwortung der Armutsbekämpfung auf den Einzelnen abgegeben wird und wie einige wenige davon profitieren.

Kathrin Hartmann stellt die zunehmende Verachtung der Mittel- und Oberschicht gegenüber den NiedrigverdienerInnen und Arbeitslosen fest, wobei sich die mittlere Schicht lieber nach oben orientiert, anstatt sich nach unten zu solidarisieren. Das führt dazu, dass ein großer Teil der Bevölkerung eine Politik akzeptiert und mitträgt, die letztendlich ihnen selbst, den ArbeitnehmerInnen, immer mehr Last aufträgt, um die Unternehmen und das Wachstum zu fördern.

Die Autorin kommt nicht umhin, die himmelschreiende Nachlässigkeit in der Verfolgung von Steuerhinterziehung anzuklagen. Gerade mal 15 Prozent der EinkunftsmillionärInnen werden jährlich kontrolliert, obwohl jede Prüfung durchschnittlich 135.000 Euro einbringt. Problematisch ist, dass die Kontrollen für die Länder Kosten bedeuten, wobei das Einkommen in die Bundeskasse fließt. Zusätzlich ist eine Region, die öfter mal die Augen zudrückt, ein attraktiver Unternehmensstandort – die Prüfungsmotivation ist entsprechend gering.

Währenddessen verbreitet sich ein Gefühl der Ohnmacht in der Bevölkerung, die auch Hartmann in ihrem Umfeld beobachtet. Zunehmende Unsicherheit, Vertrauens- und Loyalitätsverlust gegenüber den ArbeitgeberInnen und weniger Glauben an feste soziale Beziehungen, führen zu Depressionen und Zukunftpessimismus.

Die Journalistin erzählt nicht von sich selbst, sondern beschreibt in spannenden Reportagen die Situation derer, denen es wirklich schlecht, oder wirklich gut geht. Ihre Analysen machen immer wieder deutlich, "gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut". Hartmann deckt in angenehm und angebracht wütendem Ton die Strategien auf, mit denen die Politik die Verantwortung für die Armutsbekämpfung an die Betroffenen selbst oder an die Privatwirtschaft abgibt – wobei Letztere sie dankend annimmt und ein imagepolierendes Geschäft daraus macht.

Die Autorin lässt dabei nicht nur ExpertInnen zu Wort kommen, sondern auch die sonst oft ignorierten und pauschalisierten Menschen der so genannten Unterschicht. Anhand von ihren Lebensgeschichten wird klar, dass der Abstieg in die Armut auch gut qualifizierte ArbeitnehmerInnen treffen kann und sie teilweise zwingt, sich in die Schlange der örtlichen Tafel einzureihen.
So etwa die ausgebildete Ärztin Elisabeth Müller (Name geändert), die ihren Beruf aufgegeben hat, um sich um die Kinder zu kümmern, als deren Vater sie verließ – ohne Unterhalt zu zahlen.

Die Lebensmittelspenden der Supermärkte über die Tafeln helfen ihr jetzt. Eine Lösung des Armut-Problems in Deutschland bieten sie jedoch nicht. Vielmehr, so stellt Hartmann fest, hat sich das System so weit etabliert, dass die Politik eher das Engagement lobt und fördert, anstatt die eigene Aufgabe der Armutsbekämpfung durch staatliche Mittel der Umverteilung anzugehen.

Auch die riesige Nahrungsmittel-Überproduktion wird nicht aufgewogen: nur etwa 130.000 Tonnen Lebensmittel werden in Deutschland jährlich verteilt, 20 Millionen Tonnen landen weiterhin im Müll. Das Prinzip der Tafeln verlässt sich auf die riesige Nahrungsmittel-Überproduktion, die nicht nur allein durch seine "Abfälle" alle Hungernden der Welt dreimal ernähren könnte, sondern zusätzlich auf der Ausbeutung der ArbeitnehmerInnen in Entwicklungsländern basiert.

So profitieren Supermarktketten durch Imagepolierung und die Politik durch Abgabe der Verantwortung – durch 1-Euro-Jobs bei der Tafel sinkt zusätzlich die Arbeitslosenquote – und den Armen bleibt nichts weiter übrig, als das Angebot anzunehmen und sich beschämt für das Essen anzustellen, das für andere nicht gut genug war.

Arbeitslosigkeit bedeutet auch wegen der Stigmatisierung großen Stress für die Betroffenen. Hartmann schildert, wie Schuldzuweisungen und Ressentiments gegenüber Armen jede Gesellschaftsschicht durchdringt. Das führt unter anderem zu einer schlechten Verhandlungsposition für ArbeitnehmerInnen, lieber wird das prekäre Arbeitsverhältnis in Kauf genommen, als eine Kündigung zu riskieren.
Dabei belegen Studien, dass das weit verbreitete Vorurteil der `faulen Unterschicht´ unbegründet ist. Arbeitslose besitzen sogar eine höhere Motivation als die restliche Bevölkerung, gehen zudem oft einer nützlichen Tätigkeit nach – von Kindererziehung bis zu Ehrenämtern – und wären außerdem bereit, eine Stelle unterhalb ihrer Qualifikation anzunehmen.

Unter anderem hat die Senkung der Zumutbarkeitsschwelle bei Einführung der Hartz-Gesetze, zusammen mit der Lockerung des Kündigungsschutzes, 1-Euro-Jobs und dem Ausbau der Zeitarbeitsbranche, die Lage der ArbeitnehmerInnen nicht nur erheblich verschlechtert, sondern erschwert außerdem den Ausstieg aus der Armut.

Wichtig zu verstehen ist, dass es sich hier um relative Armut im Vergleich zum sozialen Umfeld handelt. Wenn Armut einem Menschen Teilhabe und Anerkennung in der Konsumgesellschaft verwehrt, ihn stigmatisiert, kann dieser Lebenszustand die Betroffenen sehr schwer belasten.

Um absolute Armut geht es in den letzten Kapitel. Hartmann ist nach Bangladesch gereist, um die GewinnerInnen und VerliererInnen der Mikrokredit-Industrie zu (be)suchen. Der Banker Muhammad Yunus hatte für seine Idee, kleine Kredite an arme Menschen zu verteilen, den Friedensnobelpreis erhalten.
Gefunden hat die Autorin vor allem verschuldete Menschen, die über brutale Geldeintreiber klagten und oft ihren letzten Besitz verkaufen oder einen zusätzlichen Kredit aufnehmen mussten, um den Ersten plus Zinsen zurück zu zahlen.
Nur etwa fünf Prozent der Mikrokredit-NehmerInnen können sich aus der Armut befreien. Nachdem der Mikrofinanzmarkt 2010 in eine schwere Krise geriet, nahmen sich 54 hochverschuldete KreditnehmerInnen das Leben.
Der Mikrokreditkritiker Thomas Dichter bringt es auf den Punkt: "Niemand von uns möchte Schulden haben. Warum also denken wir, ausgerechnet Arme hätten lieber Schulden als wir?" Außerdem beruht das System auf einem unternehmerischen Prinzip, das in einem armen Umfeld nicht fruchten kann: auch wenn sich eine Frau oder ein Mann ein kleines Geschäft aufbaut, fehlen die kaufkräftigen KundInnen.
Auf ihren Besuchen in Bangladesch muss Hartmann also die vielen kritischen Publikationen zur Mikrokreditbranche bestätigen. Sie hilft vor allem den Banken und Unternehmen, aus der Armut der Menschen ein lukratives Geschäft zu machen.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass die Armutsbekämpfung an erster Stelle Aufgabe des Staates ist, die nicht an die Privatwirtschaft mit Eigeninteresse abgegeben werden darf.

Zur Autorin: Kathrin Hartmann wurde 1972 in Ulm geboren und studierte Philosophie, Skandinavistik und Kunstgeschichte. Als freie Autorin arbeitet sie für die Frankfurter Rundschau, die taz, Titanic. Für das Wirtschafts-Magazin Enorm führt sie kritische Interviews mit VertreterInnen multinationaler Unternehmen über deren soziales und ökologisches Engagement, beziehungsweise den Auswirkungen ihrer Konzernstrategien. 2009 erschien ihre vielgelobte erste Publikation Ende der Märchenstunde. Wie die Industrie die Lohas und Lifestyle-Ökos vereinnahmt.

AVIVA-Tipp: Kathrin Hartmann macht ihre Analysen nicht nur an Statistiken fest, sondern redet direkt mit den Menschen, die sonst meist nur als Zahlen auftauchen. Sie schildert unterschiedliche Lebenswirklichkeiten von Menschen, die, an den Rand der Gesellschaft gedrängt, den Wohlstand und gehobenen Status anderer sichern.


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Kathrin Hartmann
Wir müssen leider draußen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft

Blessing Verlag, erschienen 12. März 2012
Klappenbroschur, 416 Seiten
18,95 Euro
ISBN 978-3-98667-457-9

Weiterlesen:

Interview mit Kathrin Hartmann mit "telepolis"

Es klingt einfach zu schön, dass wir weitermachen können, wie bisher - Interview mit Kathrin Hartmann bei Three Minutes

Artikel des Süddeutschen zur Studie über Arbeitsmotivation bei Arbeitslosen

Endstation Ladentheke. Einzelhandel – Macht – Einkauf. Unter welchen Bedingungen Ananas und Bananen produziert werden, die in Deutschland über die Ladentheke gehen– Studie im Auftrag von Oxfam Deutschland e.V.

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Beitrag vom 08.08.2012

AVIVA-Redaktion