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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 03.05.2012


Interview mit Céline Sciamma
Marie Heidingsfelder

"Gender, Feminismus und starke Protagonistinnen". Im Interview spricht die junge französische Regisseurin über ihren aktuellen Film "Tomboy", das Recht auf Verkleidung und den politischen...




... Anspruch ihrer Filme.

Céline Sciamma hängt an ihren Geschichten – und deshalb hat sie für ihre beiden Kinodrehbücher selbst die Regie übernommen: Nach "Water Lilies" (2007) läuft nun mit "Tomboy" ihr zweiter Film in den deutschen Kinos: Ein ebenso sensibles wie leichtes Coming Of Age Drama rund um die elfjährige Laure, die sich nach dem Umzug ihrer Familie als Junge ausgibt.
Wenige Stunden vor der Premiere traf AVIVA-Berlin die junge Autorin und Regisseurin in Berlin.


AVIVA-Berlin: Nach Ihrem Debut "Water Lilies" setzt sich auch Ihr zweiter Film "Tomboy" mit einer "Coming-of-Age-Geschichte" auseinander. Was fasziniert Sie persönlich an diesem Genre?
Céline Sciamma: Das stimmt, ich kann von diesen Geschichten nicht lassen. Einerseits weil sie mich berühren und mir nah gehen, und auch weil ich glaube, dass es wirklich guter Stoff für die Leinwand ist. Schlussendlich geht es in fast allen Filmen um Identität. Avatar ist zum Beispiel ein Film in dem es sogar um eine Doppelidentität geht.
Aber davon abgesehen, dass es mich berührt und die Grundlage für gute Kinofilme ist, interessiert mich auch der politische Aspekt.

AVIVA-Berlin: Der politische Aspekt von Gender also?
Céline Sciamma: Ja: Gender, Feminismus und die Darstellung von starken Protagonistinnen.

AVIVA-Berlin: Betrachtet frau beide Filme, gibt es allerdings einen großen Unterschied: Im Gegensatz zu den Jugendlichen aus "Water Lilies" ist die Protagonistin in Tomboy erst elf Jahre alt...
Céline Sciamma: Ich glaube nicht, dass sie sich in diesem Alter schon entscheiden müssen, im Gegenteil. Aber ich glaube, dass sie die Gelegenheit haben müssen, sich auszuprobieren und die Freiheit, sich zu erfinden. Und auch der Film verlangt keine Entscheidung: Ob Laures Verkleidung der Anfang einer radikalen Entscheidung ist, oder ob sie einfach die Gelegenheit dieses einen Sommers spielerisch nutzen wollte, bleibt im Dunkeln. Und diese Offenheit war mir sehr wichtig, denn in der Kindheit geht es auch um das Recht und den Spaß an Verkleidungen. Man darf auch nicht vergessen, dass man als Junge viel mehr Sachen machen darf, denn als Mädchen – Laure könnte sich auch deswegen als Michael verkleiden.
Der Film stellt zwar all diese Fragen, beantwortet sie aber bewusst nicht und überlässt es den BetrachterInnen, sich damit zu befassen. Und damit hatte er übrigens großen Erfolg: Viele ZuschauerInnen haben mir gesagt, dass sie sich von Tomboy betroffen gefühlt haben – und das ist eine tolle Sache.

AVIVA-Berlin: Ich habe diese Frage auch gestellt, weil es in Berlin zur Zeit eine große Debatte um ein elfjähriges Kind namens Alex gibt. Biologisch ein Junge, fühlt sie sich von Beginn an als Mädchen und fordert eine hormonelle Behandlung. Stattdessen hat das Jugendamt eine psychiatrische Behandlung beantragt, um "die Sache zu richten". Keine Frage, dass das grausam ist, aber wären Sie für eine Hormonbehandlung?
Céline Sciamma: Dazu kann ich spontan nichts sagen. Das ist eine Frage, die nur sehr schwer zu beantworten ist und ich weiß auf Anhieb nicht, was richtig ist.

AVIVA-Berlin: Obwohl es ein großes gesellschaftliches Tabu um Sexualität von Kindern gibt, zeigen Sie Kinder, die sich ihrer Geschlechtsidentität und den damit verbundenen Rollen sehr bewusst sind. Denken Sie, dass das soziale Umfeld viele Kinder davon abhält, wie Laure mit ihren Rollen zu spielen?
Céline Sciamma: Ja, das glaube ich. Ich bin zum Beispiel in den Achtzigern groß geworden, als es für Mädchen normal war, kurze Haare zu tragen – aber heute gibt es das nicht mehr: Man trifft nur sehr selten Mädchen mit kurzen Haaren.
Und ich glaube auch, dass der Druck der Geschlechternormen die Kinder immer früher trifft. Früher gab es die Kindheit und die Jugend, aber jetzt gibt es die "Vorgezogene Pubertät", eine ganz neue Kategorie.
Dieser Druck betrifft auch die Mode: Als ich Tomboy gedreht habe, wollte ich neutrale Kleidung für Kinder kaufen – aber es gab für Mädchen keine blauen T-Shirts. Genauso wenig wie kurze Haare. Und auch für die Jungs konnte ich nichts finden, was nicht mit Markennamen beschrieben war. Heute sind Kinder für die Mode-Industrie sehr kaufkräftige Konsumenten.

AVIVA-Berlin:: Denken Sie, dass der Druck innerhalb der letzten Jahre stark zugenommen hat?
Céline Sciamma:: Also im Vergleich mit meiner Kindheit, auf jeden Fall.
Das ist mir auch beim Casting für Laure aufgefallen, denn ich musste die Mädchen bitten, sich für den Film die Haare kurz schneiden zu lassen. Das war, als hätte ich verlangt, sich in eine Außerirdische zu verwandeln. Aber vielleicht ist das auch typisch Paris.
Für Zoé (die Protagonistin) war es aber kein Problem, obwohl sie sehr lange Haare hatte. Sie lässt sie jetzt auch wieder wachsen, aber warum nicht?

AVIVA-Berlin: Sie sind gelernte Drehbuch-Autorin, haben sich aber gleich für Ihr erstes Projekt ins kalte Wasser geworfen und selbst die Regie übernommen. Wie haben Sie das Know-How gelernt und was für Herausforderungen gab es?
Céline Sciamma: Ich sehe es eher als Glück, dass ich direkt in der Praxis und Filmetappe für Filmetappe lernen konnte. Das hat mir gut gefallen, denn so habe ich mir weniger Fragen gestellt. Und dabei ist mir aufgefallen, dass ich diese Herangehensweise liebe. Obwohl es verrückt ist.

AVIVA-Berlin: Sie hatten also keine genaue und detaillierte Vision im Kopf, als Sie mit den Dreharbeiten für Ihre Filme angefangen haben?
Céline Sciamma: Nein, überhaupt nicht. Es ist auch so, dass die Arbeit mit jungen SchauspielerInnen immer eine Art Freiraum kreiert, in dem man zusammen etwas erfindet. Viele Szenen haben wir tatsächlich erst beim Drehen selbst entwickelt.

AVIVA-Berlin: Und Sie sind mit dem Resultat zufrieden?
Céline Sciamma: Ob ich meine Filme selber mag? Ja, aber ich muss zugeben, dass es mir schwer fällt, sie anzuschauen. Erst vor einem Monat habe ich es geschafft, mir "Water Lilies" einfach als Zuschauerin anzuschauen. Was "Tomboy" betrifft, kann ich also vielleicht in zwei Jahren sagen, wie ich ihn als Zuschauerin finde.
Aber in jedem Fall bin ich zufrieden mit dem Leben, das meine Filme mir ermöglichen.

AVIVA-Berlin: Sie werden heute Abend bei der Premiere im Moviemento und im Cinéma Paris anwesend sein. Gibt es Reaktionen oder Fragen, vor denen Sie Angst haben?
Céline Sciamma: Nein, ich denke, ich habe schon alles an Fragen und Reaktionen erlebt. Ich begleite den Film mittlerweile seit anderthalb Jahren, habe viele Publikumsdiskussionen miterlebt und glaube nicht, dass man mich noch überraschen kann.
Sicherlich gibt es einige delikate Stellen, wie die Reaktion der Mutter oder das Ende des Films – aber darauf bin ich vorbereitet [lacht]

AVIVA-Berlin: Und von den Reaktionen, hat Sie da eine schockiert?
Céline Sciamma: Nein, richtig schockiert hat mich nichts. Aber man erkennt kulturelle Unterschiede je nach Land. In Frankreich zum Beispiel war nie Thema, dass man Laure in einer Szene nackt sieht, aber in Amerika und England kommen dazu immer Fragen.
Mal sehen, wie das heute Abend wird, aber ich habe die Premiere und die Diskussion auf der Berlinale in sehr guter Erinnerung.

AVIVA-Berlin: Was werden Ihre kommenden Projekte zum Thema haben, bleiben Sie bei der Coming-of-Age-Thematik?
Céline Sciamma: Ich weiß noch nicht genau, worum es in meinem nächsten Film gehen wird, aber ich denke, es wird um das Ende der Jugend gehen – Also wieder ein Coming-Of-Age-Film gewissermaßen. Was ich allerdings weiß, ist dass es sich wieder um ein Portrait starker Frauenfiguren handelt wird – aber mehr kann ich nicht sagen, der Rest bleibt geheim.

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Unsere Rezension zu Céline Sciammas aktuellen Film Tomboy

Unsere Rezension zu Céline Sciammas Debutfilm "Water Lilies"



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Beitrag vom 03.05.2012

AVIVA-Redaktion