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Beitrag vom 16.07.2013
Geschichte aneignen. Interview mit Nora Sternfeld
Veronika Siegl
In ihrer Publikation "Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung. Transnationales Lernen über den Holocaust in der postnazistischen Migrationsgesellschaft" plädiert die österreichische Kuratorin, ...
... Kunstvermittlerin und Wissenschaftlerin für eine Vermittlungspraxis, die über nationale Geschichtsschreibungen hinausgeht. Anlässlich der Buchpräsentation im Juli 2013 in Berlin sprach AVIVA mit Nora Sternfeld über theoretische und praktische Aspekte der Gedenkarbeit, über das Schulprojekt "Und was hat das mit mir zu tun?" sowie über die Bedeutung jüdischer Selbstpositionierungen.
AVIVA-Berlin: In deinem Buch geht es dir unter anderem darum, eher disparat behandelte Theorien und Themen zusammenzuführen. So forderst du, dass die Realität der Migrationsgesellschaft in der Holocaust-Geschichtsvermittlung anerkannt wird. Inwieweit ist das deines Wissens nach bereits passiert und wo siehst du Unterschiede zwischen Deutschland und Österreich?
Nora Sternfeld: Ein Unterschied ist sicher, dass sich Österreich nicht als Migrationsgesellschaft versteht. In Deutschland ist das mehr der Fall und daher schon länger ein Thema, aber oft sind die Diskussionen massiv paternalistisch. Migrant_innen werden zu Objekten der Sozialwissenschaft gemacht, nicht als Sprecher_innen oder Akteur_innen wahrgenommen. Darüber hinaus wird in der deutschen Literatur oft erwähnt, dass Migrant_innen sich nicht für das Thema interessieren, weil es ein deutsches Problem sei. Die Situation ist in Österreich auch insofern eine andere, als durch die Arbeitsmigration aus Jugoslawien seit den 1960er Jahren viele Familien mit dem Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien verbunden waren. Daher reicht auch eine bloße Rezeption der deutschen Literatur nicht aus.
AVIVA-Berlin: Um diese Lücken zu erkunden, hast du im Zusammenhang des Wiener Büro trafo.K ein Projekt zum Thema Nazismus, Holocaust, Zweiter Weltkrieg durchgeführt. Unter dem Titel "Und was hat das mit mir zu tun?" habt ihr zwei Jahre lang mit Schüler_innen zwischen 15 und 18 Jahren des Brigittenauer Gymnasiums in Wien zusammengearbeitet. Was waren eure Ziele?
Nora Sternfeld: Wir wollten schauen, was passiert wenn man sich auf ein Forschungs- und Bildungsprojekt einlässt, in dem Jugendliche ihre eigenen Ideen und Interessen einbringen und dadurch neue Perspektiven eröffnen, die im regulären Geschichtsunterricht, der vorwiegend nationale Erzählungen anerkennt, keinen Platz finden.
Der Titel meint, dass eine Beziehung hergestellt wird zwischen dem Gegenstand, der gelernt wird und einem selber. Unser Wunsch war, dass Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes angeeignet wird. Denn bei Geschichtsvermittlung geht es immer darum, was geschehen ist und was es für die Gegenwart bedeutet. Eine Zweier-Gruppe älterer Jugendlicher hat etwa versucht, Verbindungen zwischen dem Balkankrieg in den 1990ern und der Geschichte Jugoslawiens im Zweiten Weltkrieg herzustellen. Da ging es um die Verbrechen der Nazis in Serbien und darüber hinaus auch darum, das Verhältnis von Serb_innen und Kroat_innen, auch vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Familien, besser zu verstehen.
AVIVA-Berlin: Für die Arbeit in der Schule war das Konzept der "agonistischen Kontaktzone" wichtig, die einen Raum darstellt, in dem Konflikte und Widersprüche zugelassen, aber respektvoll verhandelt werden. Wie habt ihr eine solche Kontaktzone im Klassenzimmer etabliert?
Nora Sternfeld: Das hat sicher mit Offenheit zu tun, damit, auch selber Fehler machen zu können. Im Büro trafo.K haben wir gemeinsam mit meinen Kolleg_innen Renate Höllwart, Dirk Rupnow, Elke Smodics Kuscher und Ines Garnitschnig viel reflektiert, wo unsere eigenen toten Winkel sind. Selbstkritik ist ein wichtiger Aspekt. Der zweite ist, diese Öffnung auch in der Schule zu erreichen, wir haben versucht, die Kritik der Schüler_innen zu hören und zuzulassen, aber auch klar zu machen, dass nicht alles sagbar ist. Zum Beispiel können sexistische, rassistische und antisemitische Ansichten nicht Teil des Projekts sein. Wir haben auf einen respektvollen Rahmen geachtet, die Grenzen wurden transparent und klar gezogen, es hat sich immer alles auf einer ausgesprochenen Ebene abgespielt, aber es mussten eben auch Räume geschlossen werden.
AVIVA-Berlin: Was waren das für Räume, die ihr im Rahmen des Projekts schließen musstet?
Nora Sternfeld: Vorweg muss gesagt werden, dass wir in dem gesamten Projekt mit Expert_innen zusammengearbeitet haben, weil es zu vielen Fragen Leute gibt, die es besser wissen als wir. Und wir wollten auch nicht reproduzieren, dass immer nur dominanzkulturelle Vermittler_innen in dem Bereich arbeiten. Und dann gab es eine Kleingruppe, die im Endeffekt Werbung für rechtsextremistische Ansichten machen wollte. Wir hatten aber das Glück, mit Heribert Schiedl vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes zu kooperieren, der ein großer Experte für Rechtsextremismus ist. Ihm ist es gelungen, dass sich die Jugendlichen auf Auseinandersetzungen eingelassen haben, in denen sie selbst begonnen haben, den Rechtsextremismus zu hinterfragen. Bis zu dem Punkt, an dem sie ein Plakat gegen Rechtsextremismus gemacht haben. Aber Probleme, die in der Gesellschaft existieren, können halt nicht ausschließlich in der Schule gelöst werden. Wir leben in Österreich in einer postnazistischen Gesellschaft, die sich auch in ihrer offiziellen Erzählung noch nicht vom Opfermythos entledigt hat und mit einer Partei im Parlament, von deren Vertreter_innen immer wieder ganz deutliche, dem Rechtsextremismus nahe Sachen gesagt werden.
AVIVA-Berlin: Du hast erwähnt, dass die jeweiligen Positionen von Vermittler_innen große Bedeutung für Erinnerungsarbeit haben. Welche Rolle spielt deine Position als Jüdin in diesem Kontext?
Nora Sternfeld: Eine Reflexion meiner Position war in dem Projekt extrem wichtig und hat mich total verändert. Auch weil ich mir davor nicht so klar darüber war, wie sehr ich auch als Jüdin Antirassistin bin. Ich dachte eher, dass ich das als Österreicherin bin. Das hat damit zu tun, dass im antirassistischen Diskurs eine ziemliche Binärkodierung existiert. Also entweder ich bin Migrant_in oder ich bin dominanzkulturell. Dass es da auch noch andere Positionen gibt, darüber denkt niemand nach. In der antirassistischen Literatur werden jüdische Positionen wenig wahrgenommen. Und daher habe ich mich immer als dominanzkulturell und nur im Kampf gegen Antisemitismus als Jüdin definiert. Dass ich mich aber auch als Antirassistin jüdisch definieren kann und will, ist mir im Zuge des Projekts klar geworden. Und ich erwarte auch, dass das anerkannt wird.
AVIVA-Berlin: Aus dem Buch geht allerdings nicht eindeutig hervor, dass du jüdisch bist. Wie kommt das? Wie stehst du zu solchen Selbstpositionierungen?
Nora Sternfeld: Ich würde niemals auf die Idee kommen, das auf die Frage hin, ob ich Jüdin bin, zu verschweigen. Das Buch beginnt auch ganz bewusst mit einem Zitat aus dem Talmud: "Du brauchst die Arbeit nicht zu vollenden, aber du bist auch nicht frei, dich daraus zu entziehen." Das ist ein Zitat von Max Mannheimer, einem Überlebenden, der aus den Sprüchen der Väter zitiert. Da war es mir einerseits wichtig, das Buch in doppelter Weise mit etwas zu beginnen, was mir vorausgeht, um mich da auch in eine Geschichte zu stellen und auch solidarisch in das "Nie wieder" der Überlebenden. Und andererseits wollte ich etwas über meine Position sagen, eine Position, die sich diesem Thema nicht entziehen kann, als Jüdin, als Antirassistin und jemand, die gegen Antisemitismus Vermittlungsarbeit macht. Also in dem Sinn war das für mich schon ein Zeichen, aber ich wollte mich jetzt nicht ausführlich und lang anhaltend identitär positionieren, weil sich auch das ganze Buch gegen identitäre Zuschreibungen wendet und versucht identitäre Positionierungen zu verkomplizieren und zu durchkreuzen.
AVIVA-Berlin: Wussten die Jugendlichen, dass du aus einer jüdischen Position heraus mit ihnen arbeitest? Welche Auswirkungen hatte das auf eure Interaktionen?
Nora Sternfeld: Es wurde nur dann klar, wenn es die Situation meiner Meinung nach wirklich verlangt hat. Ich habe es nicht von Anfang an gesagt, weil ich sonst das Gefühl gehabt hätte, dass ich die Jugendlichen dann nicht mit meinen Argumenten, sondern mit meiner Identität überzeuge. Oft ist das einschüchternd und verstummend. Oder die Jugendlichen geben nach, weil sie mich nicht verletzen wollen und dann findet keine Auseinandersetzung mehr statt.
AVIVA-Berlin: In welchen Situationen war es für dich wichtig, deine Position anzusprechen?
Nora Sternfeld: In der Diskussion mit Schüler_innen über den Umgang mit historischem Bildmaterial in österreichischen Schulbüchern, beispielsweise das Foto von einem Jungen, der die Schmiererei "Jude" von einer Schaufensterscheibe abwäscht. Als ich sie gefragt habe, ob es nicht auch etwas Faszinierendes an diesen Bildern gibt, ob diese Bilder nicht auch eine Erniedrigung reproduzieren, sagten sie relativ offen "Ja", dass es sie auch fasziniert und dass sie das nicht erschreckt. Und das hat mich dann natürlich erschreckt. Eine Zeit lang habe ich versucht, zu argumentieren, aber wenn ich merke, dass etwas in meiner Argumentation das Lernverhältnis verlässt, weil ich verletzt bin, möchte ich das auch offenlegen. Das waren solche Momente.
AVIVA-Berlin: Das Offenlegen von Positionen kann ja auch etwas Positives bewirken. Womöglich haben die Jugendlichen wenig Kontakt zu Jüd_innen und so eine Situation eröffnet dann die Möglichkeit für ganz neue Auseinandersetzungen und Gespräche.
Nora Sternfeld: Vollkommen richtig. Ich glaube auch, dass ich in Zukunft offener mit meiner Positionierung sein werde. Das war für mich ein Lerneffekt aus dem Projekt.
AVIVA-Berlin: Welche Themen und Projekte werden dich in den nächsten Jahren begleiten?
Nora Sternfeld: Ich arbeite jetzt an der Aalto University in Helsinki, von daher liegt es auf der Hand, dass ich über den Raum der NS-Nachfolgestaaten hinaus denken möchte und ich möchte dem Thema geschichtspolitischer Strategien in künstlerischen Praxen, aber auch in städtischen oder urbanen interventionistischen Kontexten nachgehen.
AVIVA-Berlin: Danke für das spannende Gespräch und alles Gute für deine weiteren Projekte!
Weitere Informationen:
Büro trafo.K – Projekt "Und was hat das mit mir zu tun?"
Video "Warum begann der Balkankrieg? Gibt es Verbindungen mit dem Zweiten Weltkrieg?" – Die Schüler Mario Talaic und Milos Stanisic im Gespräch mit dem Politikwissenschafter Walter Manoschek
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Copyright Foto von Nora Sternfeld: Veronika Siegl